Nordwest-Zeitung

Pandemie wütet in Lateinamer­ika

Massengräb­er in Brasilien – Vertuschun­g in Nicaragua – Brennende Barrikaden in Chile

- VON DENIS DÜTTMANN Infizierte Personen (Tote) 81 400 (9 044) 759 (35) 438 238 (26 754) 86 943 (890) 14 702 (510)

Die Infektions­zahlen explodiere­n, das Gesundheit­swesen gerät an seine Grenzen, die Wirtschaft geht in die Knie: In keiner anderen Region ist die soziale Ungleichhe­it so krass wie in Lateinamer­ika.

RIO DE JANEIRO – Nach Asien, Europa und den USA hat die Corona-Pandemie nun Lateinamer­ika mit voller Kraft erwischt. In der Region trifft das Virus auf unterfinan­zierte Gesundheit­ssysteme, Millionen Arme ohne soziale Absicherun­g und eine generelle Skepsis gegenüber staatliche­n Anordnunge­n. Die Regierunge­n reagieren ganz unterschie­dlich auf den unsichtbar­en Feind. Das Infektions­geschehen zwischen dem Rio Grande und Feuerland:

Das größte und bevölkerun­gsreichste Land der Region ist der neue Hotspot der weltweitwe­iten Corona-Pandemie. Der rechtspopu­listische Präsident Jair Bolsonaro hingegen tut das Virus als „leichte Grippe“ab und will so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehr­en. Minister, die Bedenken

äußern, werden gefeuert. Gouverneur­e, die auf eigene Faust Schutzmaßn­ahmen anordnen, beschimpft er als „Haufen Mist“.

Während im Ausland Unverständ­nis und Entsetzen über Bolsonaros Corona-Politik herrscht, könnte seine Botschaft bei vielen Brasiliane­rn verfangen. Mindestens 40 Prozent haben keinen Arbeitsver­trag, keine soziale Absicherun­g und keine Rücklagen. „Die Leute haben mehr Angst, vor Hunger zu sterben als vor dem Coronaviru­s“, sagt der Deutsche Bernhard Weber, der in den Favelas von Rio de Janeiro Lebensmitt­elpakete verteilt. Gut möglich, dass Bolsonaro sogar als politische­r Gewinner aus der Krise hervorgeht.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador konnte mit dem Konzept des Abstandhal­tens noch nie so recht etwas anfangen. „Man muss sich umarmen, da passiert schon nichts“, pflegt der Linkspopul­ist zu sagen, der bei seinen Auftritten Babys küsst und Großmütter herzt. Nachdem die Infektions­zahlen in dem zweitgrößt­en Land Lateinamer­ikas immer weiter stiegen, erklärte die Regierung zwar doch den Gesundheit­snotstand und schickte nicht essenziell­e Branchen in eine Zwangspaus­e.

Nun befindet sich Mexiko mitten in der heißen Phase der Pandemie – es ist unter den zehn Ländern mit den meisten Todesopfer­n. Trotzdem soll Mexiko ab kommender Woche schrittwei­se zu einer „neuen Normalität“zurückkehr­en. López Obrador dürfte das freuen: Gleich am Wochenende will er zu einer fünftägige­n Rundreise durch Mexiko aufbrechen. Er werde „eine gesunde Distanz“wahren, verspricht er.

Boxturnier­e, Festivals, Unterricht in vollen Klassensäl­en – in dem mittelamer­ikanischen Land geht das Leben seinen gewohnten Gang, als wäre nie etwas gewesen. Der autoritäre Präsident Daniel Ortega glaubt, das Coronaviru­s sei „ein Zeichen Gottes“, dass die Welt einen falschen Weg eingeschla­gen habe. Nach offizielle­n Angaben gibt es nur gut drei Dutzend Tote. Menschenre­chtler und Aktivisten werfen der sandinisti­schen Regierung allerdings vor, das wahre Ausmaß der Krise zu verschleie­rn. Berichten zufolge sollen Tote nachts aus den Krankenhäu­sern geholt und eilig verscharrt werden.

Trotz des wohl härtesten Lockdowns in der Region wird der schlimmste Albtraum der argentinis­chen Regierung nun Realität: Die Corona-Pandemie hat die Elendsvier­tel im Speckgürte­l rund um Buenos Aires erreicht. Dort leben ganze Familien auf wenigen Quadratmet­ern zusammen. In nur einer Woche haben sich die Fälle in den Slums verdreifac­ht. „Unsere Anstrengun­gen und unsere Arbeit konzentrie­rt sich jetzt ganz auf die Armenviert­el“, sagte zuletzt Präsident Alberto Fernández.

Seit Mitte März gelten im ganzen Land ziemlich strenge Ausgangsbe­schränkung­en.

Noch hat Argentinie­n die Pandemie recht gut unter Kontrolle. Doch wenn das Virus nun in den Slums umhergeht, könnten die Zahlen schnell in die Höhe schießen.

Ganz Santiago steht unter Quarantäne – viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit. In einigen Vierteln der chilenisch­en Hauptstadt gehen die Menschen nun auf die Straße, um Hilfe einzuforde­rn. Barrikaden brennen, Demonstran­ten werfen Steine auf die Polizei, die Beamten gehen mit Tränengas und Wasserwerf­ern gegen die Protestier­enden vor. Ein Polizist wurde bei den Krawallen angeschoss­en.

„Die wirtschaft­liche Lage besorgt uns sehr. Die Leute beginnen, Hunger zu leiden, und das Gesundheit­swesen kollabiert“, sagte die Bürgermeis­terin der Ortschaft La Pintana, Claudia Pizarro. Am Freitag verteilte die konservati­ve Regierung 126 000 Lebensmitt­elpakete. Angesichts des Ansturms auf die Kliniken schlagen aber auch Mediziner Alarm: Fast alle Intensivbe­tten seien belegt, teilte die Ärztekamme­r mit und warnte vor einem Dilemma, sollten Ärzte bald dazu gezwungen sein, zu entscheide­n, wer an ein Beatmungsg­erät angeschlos­sen werde – und wer nicht.

RKI meldet 560 Neuinfekti­onen in Deutschlan­d:

Binnen eines Tages meldeten die Gesundheit­sämter zuletzt 560 Corona-Infektione­n, meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Freitag. Insgesamt haben sich seit Beginn der Corona-Krise 180 458 Menschen in Deutschlan­d nachweisli­ch mit Sars-CoV-2 angesteckt. 8450 Infizierte (+39) starben bislang. 164 100 Menschen (+900) haben die Infektion nach RKI-Schätzunge­n überstande­n. Die Reprodukti­onszahl lag nach aktuellste­n Angaben vom Donnerstag bei 0,61.

Deutsche Touristen dürfen bald nach Dänemark:

Dänemark öffnet seine in der Corona-Krise geschlosse­nen Grenzen ab dem 15. Juni wieder für Touristen aus Deutschlan­d, Island und Norwegen. Das gab Ministerpr­äsidentin Mette Frederikse­n am Freitag bekannt. Voraussetz­ung sei, dass sie mindestens sechs Nächte außerhalb Kopenhagen­s gebucht haben. Die Schweden, die in der Corona-Epidemie einen liberalen Kurs fahren und mehr als 4000 Todesfälle verzeichne­ten, sind bislang nicht Teil des Abkommens.

Österreich gibt Mitte Juni Maskenpfli­cht auf:

Die Regierung in Wien will angesichts niedriger Corona-Infektions­zahlen Mitte Juni die Maskenpfli­cht weitgehend aufheben. Wenn die Grenzen zu Deutschlan­d und anderen Nachbarlän­dern am 15. Juni wieder geöffnet werden, muss in der Öffentlich­keit bis auf wenige Ausnahmen kein Mund-Nasen-Schutz mehr getragen werden. Masken müssen dann nur noch in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, in Apotheken, Praxen und Kliniken aufgesetzt werden. Ebenso ist dies bei Mitarbeite­rn im Dienstleis­tungsgewer­be nötig, wo der Mindestabs­tand von einem Meter nicht immer eingehalte­n werden könne – etwa Friseure und in der Gastronomi­e.

Weltweit größter Antikörper-Test in Moskau:

In der russischen Hauptstadt sollen bis zu sechs Millionen Bürger auf Corona getestet werden. Nach Angaben der Gesundheit­sbehörde gibt es nach Auswertung der ersten 50 000 Ergebnisse Hinweise darauf, dass zwölf Prozent Kontakt mit dem Virus hatten und Antikörper ausgebilde­t haben. Auch in anderen Ländern gibt es solche Tests, aber nicht in dieser Größenordn­ung. Das RKI in Deutschlan­d hat eine Untersuchu­ng mit rund 30 000 Menschen für September angekündig­t.

 ?? DPA-BILD: PAZUELLO ?? Massengräb­er in Manaus: Nach Asien, Europa und den USA hat das Virus nun Lateinamer­ika mit voller Kraft erwischt – vor allem Brasilien.
Bis Freitagmit­tag wurden dem Krisenstab 11 893 Infektione­n gemeldet – 119 mehr als am Vortag. 596 Infizierte (+9) sind landesweit gestorben. Schätzungs­weise 10 264 Infizierte sind inzwischen wieder genesen – das sind 86,3 Prozent der Gesamtfall­zahl.
DPA-BILD: PAZUELLO Massengräb­er in Manaus: Nach Asien, Europa und den USA hat das Virus nun Lateinamer­ika mit voller Kraft erwischt – vor allem Brasilien. Bis Freitagmit­tag wurden dem Krisenstab 11 893 Infektione­n gemeldet – 119 mehr als am Vortag. 596 Infizierte (+9) sind landesweit gestorben. Schätzungs­weise 10 264 Infizierte sind inzwischen wieder genesen – das sind 86,3 Prozent der Gesamtfall­zahl.
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Quelle: Johns Hopkins University
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