Pandemie wütet in Lateinamerika
Massengräber in Brasilien – Vertuschung in Nicaragua – Brennende Barrikaden in Chile
Die Infektionszahlen explodieren, das Gesundheitswesen gerät an seine Grenzen, die Wirtschaft geht in die Knie: In keiner anderen Region ist die soziale Ungleichheit so krass wie in Lateinamerika.
RIO DE JANEIRO – Nach Asien, Europa und den USA hat die Corona-Pandemie nun Lateinamerika mit voller Kraft erwischt. In der Region trifft das Virus auf unterfinanzierte Gesundheitssysteme, Millionen Arme ohne soziale Absicherung und eine generelle Skepsis gegenüber staatlichen Anordnungen. Die Regierungen reagieren ganz unterschiedlich auf den unsichtbaren Feind. Das Infektionsgeschehen zwischen dem Rio Grande und Feuerland:
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Das größte und bevölkerungsreichste Land der Region ist der neue Hotspot der weltweitweiten Corona-Pandemie. Der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro hingegen tut das Virus als „leichte Grippe“ab und will so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren. Minister, die Bedenken
äußern, werden gefeuert. Gouverneure, die auf eigene Faust Schutzmaßnahmen anordnen, beschimpft er als „Haufen Mist“.
Während im Ausland Unverständnis und Entsetzen über Bolsonaros Corona-Politik herrscht, könnte seine Botschaft bei vielen Brasilianern verfangen. Mindestens 40 Prozent haben keinen Arbeitsvertrag, keine soziale Absicherung und keine Rücklagen. „Die Leute haben mehr Angst, vor Hunger zu sterben als vor dem Coronavirus“, sagt der Deutsche Bernhard Weber, der in den Favelas von Rio de Janeiro Lebensmittelpakete verteilt. Gut möglich, dass Bolsonaro sogar als politischer Gewinner aus der Krise hervorgeht.
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Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador konnte mit dem Konzept des Abstandhaltens noch nie so recht etwas anfangen. „Man muss sich umarmen, da passiert schon nichts“, pflegt der Linkspopulist zu sagen, der bei seinen Auftritten Babys küsst und Großmütter herzt. Nachdem die Infektionszahlen in dem zweitgrößten Land Lateinamerikas immer weiter stiegen, erklärte die Regierung zwar doch den Gesundheitsnotstand und schickte nicht essenzielle Branchen in eine Zwangspause.
Nun befindet sich Mexiko mitten in der heißen Phase der Pandemie – es ist unter den zehn Ländern mit den meisten Todesopfern. Trotzdem soll Mexiko ab kommender Woche schrittweise zu einer „neuen Normalität“zurückkehren. López Obrador dürfte das freuen: Gleich am Wochenende will er zu einer fünftägigen Rundreise durch Mexiko aufbrechen. Er werde „eine gesunde Distanz“wahren, verspricht er.
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Boxturniere, Festivals, Unterricht in vollen Klassensälen – in dem mittelamerikanischen Land geht das Leben seinen gewohnten Gang, als wäre nie etwas gewesen. Der autoritäre Präsident Daniel Ortega glaubt, das Coronavirus sei „ein Zeichen Gottes“, dass die Welt einen falschen Weg eingeschlagen habe. Nach offiziellen Angaben gibt es nur gut drei Dutzend Tote. Menschenrechtler und Aktivisten werfen der sandinistischen Regierung allerdings vor, das wahre Ausmaß der Krise zu verschleiern. Berichten zufolge sollen Tote nachts aus den Krankenhäusern geholt und eilig verscharrt werden.
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Trotz des wohl härtesten Lockdowns in der Region wird der schlimmste Albtraum der argentinischen Regierung nun Realität: Die Corona-Pandemie hat die Elendsviertel im Speckgürtel rund um Buenos Aires erreicht. Dort leben ganze Familien auf wenigen Quadratmetern zusammen. In nur einer Woche haben sich die Fälle in den Slums verdreifacht. „Unsere Anstrengungen und unsere Arbeit konzentriert sich jetzt ganz auf die Armenviertel“, sagte zuletzt Präsident Alberto Fernández.
Seit Mitte März gelten im ganzen Land ziemlich strenge Ausgangsbeschränkungen.
Noch hat Argentinien die Pandemie recht gut unter Kontrolle. Doch wenn das Virus nun in den Slums umhergeht, könnten die Zahlen schnell in die Höhe schießen.
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Ganz Santiago steht unter Quarantäne – viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit. In einigen Vierteln der chilenischen Hauptstadt gehen die Menschen nun auf die Straße, um Hilfe einzufordern. Barrikaden brennen, Demonstranten werfen Steine auf die Polizei, die Beamten gehen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor. Ein Polizist wurde bei den Krawallen angeschossen.
„Die wirtschaftliche Lage besorgt uns sehr. Die Leute beginnen, Hunger zu leiden, und das Gesundheitswesen kollabiert“, sagte die Bürgermeisterin der Ortschaft La Pintana, Claudia Pizarro. Am Freitag verteilte die konservative Regierung 126 000 Lebensmittelpakete. Angesichts des Ansturms auf die Kliniken schlagen aber auch Mediziner Alarm: Fast alle Intensivbetten seien belegt, teilte die Ärztekammer mit und warnte vor einem Dilemma, sollten Ärzte bald dazu gezwungen sein, zu entscheiden, wer an ein Beatmungsgerät angeschlossen werde – und wer nicht.
RKI meldet 560 Neuinfektionen in Deutschland:
Binnen eines Tages meldeten die Gesundheitsämter zuletzt 560 Corona-Infektionen, meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Freitag. Insgesamt haben sich seit Beginn der Corona-Krise 180 458 Menschen in Deutschland nachweislich mit Sars-CoV-2 angesteckt. 8450 Infizierte (+39) starben bislang. 164 100 Menschen (+900) haben die Infektion nach RKI-Schätzungen überstanden. Die Reproduktionszahl lag nach aktuellsten Angaben vom Donnerstag bei 0,61.
Deutsche Touristen dürfen bald nach Dänemark:
Dänemark öffnet seine in der Corona-Krise geschlossenen Grenzen ab dem 15. Juni wieder für Touristen aus Deutschland, Island und Norwegen. Das gab Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Freitag bekannt. Voraussetzung sei, dass sie mindestens sechs Nächte außerhalb Kopenhagens gebucht haben. Die Schweden, die in der Corona-Epidemie einen liberalen Kurs fahren und mehr als 4000 Todesfälle verzeichneten, sind bislang nicht Teil des Abkommens.
Österreich gibt Mitte Juni Maskenpflicht auf:
Die Regierung in Wien will angesichts niedriger Corona-Infektionszahlen Mitte Juni die Maskenpflicht weitgehend aufheben. Wenn die Grenzen zu Deutschland und anderen Nachbarländern am 15. Juni wieder geöffnet werden, muss in der Öffentlichkeit bis auf wenige Ausnahmen kein Mund-Nasen-Schutz mehr getragen werden. Masken müssen dann nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Apotheken, Praxen und Kliniken aufgesetzt werden. Ebenso ist dies bei Mitarbeitern im Dienstleistungsgewerbe nötig, wo der Mindestabstand von einem Meter nicht immer eingehalten werden könne – etwa Friseure und in der Gastronomie.
Weltweit größter Antikörper-Test in Moskau:
In der russischen Hauptstadt sollen bis zu sechs Millionen Bürger auf Corona getestet werden. Nach Angaben der Gesundheitsbehörde gibt es nach Auswertung der ersten 50 000 Ergebnisse Hinweise darauf, dass zwölf Prozent Kontakt mit dem Virus hatten und Antikörper ausgebildet haben. Auch in anderen Ländern gibt es solche Tests, aber nicht in dieser Größenordnung. Das RKI in Deutschland hat eine Untersuchung mit rund 30 000 Menschen für September angekündigt.