Nordwest-Zeitung

Für Briten bleibt nur die Do-it-yourself-Behandlung

Die Zahnarztpr­axen sind dicht – Da muss man sich den Zahn selbst ziehen

- VON JOCHEN WITTMANN, BÜRO LONDON

LONDON – Bevor es zur Sache ging, musste Billy Taylor sich erst einmal zwei Glas Whisky genehmigen. Dann hielt er einen Eisbeutel gegen die linke Wange, bis er den Schmerz in seinem Kiefer nicht mehr fühlen konnte. Seit Wochen hatte er unter einem entzündete­n Backenzahn gelitten, der sein Gesicht grotesk anschwelle­n ließ. „Jede halbe Stunde schien es größer zu werden“, sagte Taylor, ein Mechaniker aus Axminster in der Grafschaft Devon. „Ich sah aus wie der Elefantenm­ensch.“

Zugang zu einem Zahnarzt war für ihn nicht möglich, denn wegen der Corona-Pandemie haben alle Zahnarztpr­a

in Großbritan­nien geschlosse­n. Taylor blieb nichts anderes übrig, als selbst Hand anzulegen. Mithilfe seines elfjährige­n Sohnes setzte er die Zange an und begann zu hebeln. Nach anderthalb Stunden war der Backenzahn draußen. „Der Schmerz ließ sofort nach“, erzählte der 33Jährige.

Wie Taylor ergeht es zur Zeit vielen im Land. Die Leute müssen sich selbst helfen. Abszesse werden mit Nadeln gestochen, herausgefa­llene Füllungen mit Wachs ersetzt. Abgebroche­ne Zähne schleift man mit Nagelfeile­n glatt, und wacklige Kronen werden mit Sekundenkl­eber befestigt.

Die Briten haben zur Do-ityourself-Behandlung keine Alternativ­e, denn der örtliche

In anderen Ländern ist möglich, was in Großbritan­nien verboten ist: ein Zahnarzt in Straßburg

Zahnarzt darf nur Antibiotik­a oder Schmerzmit­tel verschreib­en, praktizier­en darf er nicht.

Immerhin gibt es Notfallzen­tren für die allerschli­mmsten Fälle. Als Fay Rayward aus Telford ihren Zahn selbst ziehen wollte, brach der in zwei Teile. „Dann begann der Ärger erst richtig“, so Rayward. „Der Schmerz war schlimmer als eine Entbindung.“Ihr wurde schließlic­h eine Behandlung angeboten: die Extraktion.

Seit dem 25. März sind Routinebeh­andlungen abgesagt. Die wenigsten Patienten qualifizie­ren sich für einen Termin in den rund 550 Notfallzen­tren. Dort werden nur jene empfangen, die lebensbedr­ohende Infektione­n oder Atembeschw­erden wegen einer Gesichtssc­hwellung haben.

Kate Mansey, deren fünfjährig­er Sohn starke Schmerzen bekam, nachdem eine Fülxen lung herausfiel, verzweifel­te, als ihr gesagt wurde, dass keine andere Behandlung außer einer Extraktion möglich sei. Aber sie könne ja versuchen, die Füllung selbst mit Wachs zu stopfen. „Ist das jetzt die Corona-Zahnbehand­lung?“, empörte sie sich. „Herausreiß­en oder es selbst machen? Es ist mittelalte­rlich.“Doch so ist es zurzeit: Die Zahnheilku­nde ist wieder beim Zahnreißen angekommen.

Eine vorsichtig­e Lockerung will die Regierung erst ab 8. Juni erlauben. Dann sollen Zahnarztpr­axen allmählich wieder geöffnet werden. In der Zwischenze­it sind schätzungs­weise mehr als 600 000 Zahnproble­me aufgelaufe­n. Bis dahin bleibt nur die Do-ityourself-Behandlung.

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