„Da wird mit zweierlei Maß gemessen“
Früherer EU-Kommissar Günther Oettinger über Brüssels Auflagen zur Lufthansa-Rettung
Kapitalspritzen in Euro, die europäische Unternehmen laut EU-Kommission allein dieses Jahr aufgrund der Corona-Krise benötigen.
Kauft eine Familie ein 45 Jahre altes Haus und stellt sie vor dem Einzug fest, dass in den geputzten Wänden Risse vorhanden sind und ein nicht fachmännisch repariertes Loch im Dach ist, so können die Käufer nicht unbedingt Schadenersatz verlangen. Zum einen sind derartige Risse in einem so alten Haus normal und kein Mangel. Zudem scheiterten Ansprüche wegen des undichten Dachs am hier vereinbarten Gewährleistungsausschluss (LG Coburg, 14 O 271/17).
Herr Oettinger, warum geht die Europäische Kommission im Fall Lufthansa so scharf gegen Deutschland vor? Oettinger: Die EU-Kommission hat die Aufgabe, für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Das sollte man sehen und auch dafür Verständnis haben. Denn die Luftfahrt hat nicht nur eine nationale, sondern eine europäische Dimension. Trotzdem bin ich in der Sache besorgt.
Warum?
Oettinger: Hier stoßen zwei Anliegen aufeinander. Auf der einen Seite sieht man sich in Brüssel als Anwalt des Verbrauchers, dem man möglichst viel Wettbewerb in Europa garantieren will. Auf der anderen Seite kann man diese Sichtweise aber nicht von der erheblich schwächen. Deshalb hoffe ich auf eine kluge industriepolitische Entscheidung, um der Lufthansa eine Chance zu geben, 2030 zu den Weltmarkt-Champions zu gehören.
Sie haben als für die Industriepolitik zuständiger Kommissar mit Staatsbeihilfen für Alitalia zu tun gehabt. Wie haben Sie entschieden? Oettinger: Das stimmt. Die Marktbeihilfe wird verzinst, wie es bei einem privaten Geldgeber auch erwartet würde. Sie ist befristet und ein schneller Rückzug der Bundesregierung aus dem Konzern wurde auch vereinbart. Deshalb ist die Aufgabe von Startund Landerechten an den beiden Flughäfen Frankfurt und München ein unnötiger Eingriff.
Staatsbeihilfen für Air France und Alitalia in dieser Krise widerspruchslos genehmigt hat. Oettinger: So ist es. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.
Die EU-Kommission argumentiert strikt rechtlich. Ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um endlich politisch zu denken und andere Kriterien anzulegen? Oettinger: Brüssel hat erst vor Kurzem seine Beihilfe-Regelungen für die Corona-Krise überarbeitet. Das betrifft jene Zuwendungen, die nicht als Kredite gegeben werden, sondern wo der Staat als Anteilseigner auftritt. Die Bundesregierung wäre besser beraten gewesen, wenn sie früher über solche Fälle wie Lufthansa nachgedacht hätte. Aber es kommt ja leider oft vor, dass man in Berlin glaubt, Brüssel sei in solchen Fragen nicht so entscheidend. Das ist ein Irrtum.