Nordwest-Zeitung

Keine gepackten Koffer mehr

Zentralrat der Juden vor 70 Jahren gegründet – Einst Auswandere­rhilfe

- VON LETICIA WITTE

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren jüdische Überlebend­e des Holocaust oft traumatisi­ert und orientieru­ngslos. Wer überlebt hatte, befand sich oft fern der Heimat. Zurück nach Deutschlan­d? Beziehungs­weise dort bleiben? Für viele Juden war das völlig unvorstell­bar. Dennoch wagte eine ganze Reihe von Juden diesen Schritt.

1945 wurden nach Angaben des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d 51 jüdische Gemeinden wiedergegr­ündet – ein Jahr später gab es schon 67. Kurz nach Kriegsende hatte sich das Zentralkom­itee der befreiten Juden in der amerikanis­chen Zone zusammenge­funden. Auch in anderen Besatzungs­zonen gab es vergleichb­are Gruppen.

Vertretung der Juden

Am 19. Juli 1950 gründete sich in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d. Er war damals zunächst als Vertretung der Interessen von Juden bis zu deren Auswanderu­ng gedacht, etwa in den erst kurz zuvor gegründete­n Staat Israel.

Als der Zentralrat gegründet wurde, lebten den Angaben zufolge rund 15 000 Juden

in Deutschlan­d. Hinzu kamen Menschen, die ins Ausland geflohen und dann wieder zurück nach Deutschlan­d gegangen waren. Außerdem noch die „Displaced Persons“: rund 200 000 Juden aus Osteuropa, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehr­en konnten oder wollten, und deren Zahl noch anstieg.

Doch im Laufe der Zeit „stabilisie­rte sich das Provisoriu­m“, sagt der heutige Zentralrat­spräsident Josef Schuster. In den Nachkriegs­jahren blieb die Zahl der Gemeinden in der Bundesrepu­blik laut Zentralrat relativ konstant: Etwa 26 000 Juden bildeten rund 50 Gemeinden. In der

DDR lebten offizielle­n Angaben zufolge knapp 500 Juden in fünf Gemeinden.

Oft wird im Zusammenha­ng mit jüdischem Leben in Deutschlan­d das Bild der Koffer gebraucht: Während Juden zunächst sprichwört­lich auf gepackten Koffern saßen und ihrer Auswanderu­ng entgegensa­hen, packte eine nicht kleine Anzahl diese Koffer irgendwann dann doch aus. Schuster betont: „Es dauerte in Deutschlan­d zwei Jahrzehnte, bis Überlegung­en zum Auswandern in den Hintergrun­d rückten.“

Eine wichtige Rolle habe dabei Werner Nachmann gespielt, der von 1969 bis 1988 an der Spitze des Zentralrat­s stand und sich in den 1970er Jahren klar zu jüdischem Leben in Deutschlan­d bekannt habe. „Bis dahin wurde man eher schief angeguckt, wenn man sagte, man wolle als Jude in Deutschlan­d leben“, so Schuster. Es sei dann zu Änderungen in den Zielen des Zentralrat­s gekommen, der heute die Interessen von Juden vertritt.

Rund 95 000 Mitglieder

In den 1990er Jahren ließen Zuzug und Integratio­n von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunio­n die Zahl der Juden und Gemeinden im wiedervere­inigten Deutschlan­d ansteigen und ein großes Thema des Zentralrat­s werden. 1990 wurden außerdem die Gemeinden aus der DDR in den Zentralrat aufgenomme­n.

Im Moment gehören ihm 105 jüdische Gemeinden mit rund 95 000 Mitglieder­n an. Auch die Vorsitzend­en beziehungs­weise Präsidente­n des Zentralrat­s sind oft weit über die jüdische Gemeinscha­ft hinaus prägend für den gesellscha­ftspolitis­chen Diskurs und das Engagement gegen Antisemiti­smus gewesen – man denke etwa an Heinz Galinski, Ignatz Bubis oder Charlotte Knobloch.

 ?? DPA-BILD ?? 25. März 1949: Jüdische Frauen mit gepackten Koffern am Berliner Flughafen freudig auf dem Weg nach Israel
DPA-BILD 25. März 1949: Jüdische Frauen mit gepackten Koffern am Berliner Flughafen freudig auf dem Weg nach Israel

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