Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München FORTSETZUN­G FOLGT

Autos schieben sich geduldig hinter Autos, irgendwo spielt ein Akkordeon. Erst einen Block weiter, als sie an einer Ampel wartet, fällt Édith auf, dass Marcel noch kein Wort gesagt hat.

„Was ist?“Endlich wagt sie es, sich bei ihm einzuhaken. „Ist etwas passiert?“Sie sucht sein Gesicht nach einer Antwort ab, doch es ist undurchdri­nglich, so abweisend, wie sie es nur vom Boxen her kennt. „Habe ich etwas falsch gemacht?“

Die Ampel springt um, und sie muss sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.

„Habe ich dich verärgert? Nun sag schon, Marcel.“Sie bleibt stehen, sieht zu ihm hoch.

Sie stehen mitten auf dem Bürgerstei­g, doch es gibt keine Bemerkunge­n, keinerlei böse Kommentare. Die Menge teilt sich um Marcel herum, wie sie es immer zu tun pflegt. Als wäre er ein Fels und es folglich naturgegeb­en, dass sie ihn umrunden müssen.

„Ich weiß nicht, Édith. Heute hast du mich das erste Mal enttäuscht.“

Ihr ist, als hätte er einen Eimer kaltes Wasser über sie gegossen.

„Was? Warum denn?“Den Verkehrslä­rm, das Hupen nimmt sie gar nicht mehr wahr. Nur sein Gesicht, unter der Hutkrempe dunkel verborgen.

„Ich bin mindestens so enttäuscht wie deine Anhänger. Sie haben lange da gewartet, Édith. Ich konnte sie beobachten. Und du kommst heraus und würdigst sie keines Blickes.“

„Ach das.“Sie ist erleichter­t, aber nur für einen Augenblick, denn Marcel fährt schon fort.

„Ja das. Möchtest du in Zukunft in leeren Räumen auftreten? Ist es das? Denn diese Menschen sind diejenigen, die dir zuhören. Die dich dafür bezahlen zu singen. Denen du alles verdankst.“

Édith ist viel zu verdattert, um zu antworten.

„Wenn ich drüben in Ameriwortu­ng. ka in den Ring steige und gegen einen Amerikaner boxe: Meinst du, die Menschen jubeln mir zu? Sicher nicht. Sie haben viel dafür bezahlt, ihren Favoriten siegen zu sehen. Und wollen, dass ich verliere. Et alors? Ich gebe ihnen einen Kampf. Ich nehme ihre Wut, mache sie zu meiner eigenen und gebe sie wieder zurück. Stachele sie so an, dass es ihnen schließlic­h egal ist, wer da oben steht. Ob Franzose oder Amerikaner, schwarz oder weiß. Ich kitzele das in ihnen wach, was sie auch in mir sehen wollen: den unbedingte­n Willen zum Sieg. Dann sind wir eins, ich und die Masse. Und zum Schluss werden sie mir zujubeln. Weil ich gewinne.“

Marcel spricht beherrscht und konzentrie­rt, und Édith fühlt sich unangenehm an seinen Boxstil erinnert. Das kontrollie­rte Zuschlagen.

„Das ist kein Schauspiel, Édith. Gar kein Spiel. Und so ist es bei dir auch, habe ich immer gedacht. Du singst, was du bist. Das ist es, was ich an dir so bewundere. Was alle an dir bewundern. Das hebt dich über alle anderen Sängerinne­n deiner Zeit heraus. Sind wir uns da einig?“

Immer noch verdutzt und kleinlaut zugleich, bleibt Édith nichts anderes übrig, als zu nicken. Sie fühlt sich entblößt und verstanden zugleich.

„Also kannst du nicht aussteigen aus dem Ring und so tun, als ob nichts gewesen wäre. Du hattest eine Beziehung zu diesen Menschen, Édith. Eine Beziehung, in der es um weit mehr ging als um Geld. An einem Punkt wart ihr eins. Also hast du auch eine Verant

Sie sind dir gefolgt bis zu diesem Punkt, also lässt du sie nicht so einfach fallen. Und wenn sie das nächste Mal eine Minute deiner kostbaren Zeit wollen und eine Unterschri­ft, dann …“Er atmet kurz durch, und auch das erinnert Édith an den Übungskamp­f, den sie damals in New York gesehen hat. Das Lockerlass­en, das Ausschütte­ln. „Dann gibst du ihnen eben ein Autogramm. Es kostet dich nichts und besiegelt euren Pakt. Das ist alles.“

Das ist alles? In ihrem ganzen Leben hat Édith noch nie so eine Ansprache gehört. Sie weiß nichts zu sagen, also hält sie sich an das, was sie vor Augen hat: Marcels Mantel in dem Fall. Es hat leicht zu nieseln begonnen, und auf dem Stoff sammeln sich winzige Wassertröp­fchen, die zu betrachten sich lohnt. Bis in alle Ewigkeit, wenn es sein muss.

„Édith?“Sie schaut nicht auf. – „Édith.“Er hebt ihr Kinn mit dem Zeigefinge­r.

Sie schließt ihre Augen gegen den herabfalle­nden Regen.

„Du bist die größte Sängerin deiner Zeit. Verlier nicht den Kontakt zu den Menschen, die dir das ermögliche­n.“Mit seinem Daumen streichelt er ihre Wange, dann lacht er kurz auf. „Oder anders ausgedrück­t: Sei nett.“– „Ich bin nett.“Édith blinzelt trotzig.

„Ich weiß.“Marcel beugt sich über sie und küsst sie, aber nur ganz leicht. „Eigentlich bist du nett, also vergiss das nicht.“

„Ich verge…“, will Édith antworten, doch dieses Mal verschließ­t Marcel ihr den Mund. Küsst sie richtig, mitten auf dem Boulevard de Clichy, inmitten all der Menschen. Und auch das tut er kompromiss­los, das ist kein Spiel. Das sind nur er und sie, nur sie beide.

Das Klatschen ist eben erst verebbt, die Musik spielt wieder. Es gibt eine kleine Pause. Und eine Änderung: Als besonderer Gast wird heute Abend Yves Montand auftreten.

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