OSTFRIESENHÖLLE
Willi Meyerhoff aus Schermbeck verbrachte seit 25 Jahren mit seiner Frau jeden Sommerurlaub auf Borkum. Er nannte die Insel meine zweite Heimat. Er wusste, wo es das beste Eis gab, die beste Currywurst und das beste Fischbrötchen. Und er liebte Kriminalromane. Er hatte ein paar Autoren, deren Bücher er verschlang. Urlaub, das hieß für ihn auch, fünfzig bis hundert Seiten Spannungsliteratur am Tag. Manchmal packten ihn Romane so sehr, dass er die ganze Nacht durchlas.
Bei Christian Jaschinski war es ihm im vorigen Jahr so gegangen, diesmal bei Nele Neuhaus. Jetzt war er kurz vor dem Schluss. Und dann teilte er sich den Roman gern in kleine Häppchen ein, hatte Angst, sonst das Vergnügen zu schnell zu beenden. Es war das gleiche Problem wie mit den Eisbechern. Wenn das Eis zu gut war, löffelte er es zu schnell in sich hinein.
Auf Borkum, so fand er, schmeckten seine Zigaretten ganz anders als in Schermbeck. Zu Hause rauchte er praktisch gar nicht mehr, nur noch hier im Urlaub. Ein, zwei am Tag. Mehr nicht. Schließlich wollte er noch eine Weile leben.
Dann sah er diese Gestalten, die aussahen, als seien sie soeben einem Kriminalroman entsprungen. Schwarze, kugelsichere Westen mit der Aufschrift Polizei. Helme wie Darth Vader in Star Wars.
Passierte das gerade wirklich? Er hatte nur ein Bier getrunken und auch das war schon zwei, drei Stunden her.
Er fühlte sich nicht bedroht. Er genierte sich fast ein bisschen, so als werde er Zeuge von etwas, das er nicht sehen sollte. Gleichzeitig schaffte er es nicht wegzugucken. Es musste sich um eine ziemlich gutdurchtrainierte Truppe handeln. Zwei Polizisten waren so schnell auf dem Dach, als hätten sie Saugnäpfe an den Händen und Knien.
Er kannte den Mann, der dort wohnte. Ein Rechtsanwalt namens Weber. Ein netter, gebildeter Mensch. Sie hatten sich ab und zu zufällig in Perners Markant-Supermarkt getroffen und einmal in der Kneipe Zum kleinen Leuchtturm. Jeder hatte eine andere Milchbude, die für ihn die beste war, und sie hatten geradezu ein Streitgespräch darüber geführt, wo es den besten Kaffee und den besten Milchreis gab.
Was wollte diese Polizeieinheit bei Weber? Hatten sich bei dem Terroristen eingenistet? Von außen wirkte das Haus dunkel. Entweder schliefen alle, oder es war verlassen. Ein dritter Polizist war jetzt auf dem Balkon. Die zwei vom Dach und der vom Balkon gaben Zeichen nach unten.
Willi Meyerhoff sog an seiner Zigarette. Er hatte in der Aufregung nicht bemerkt, dass die Glut schon am Filter war. Erschrocken ließ er den Stummel fallen und zündete sich, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, noch eine an. Vielleicht, dachte er, sollte ich selbst anfangen, Kriminalromane zu schreiben …
Dann entdeckte er seinen Nachbarn Weber mit einer Frau und einem weiteren Mann, den er aus den Nachrichten im Fernsehen kannte. Er rieb sich die Augen.
*
Peter Grendel liebte die Morgenstunden. Selbst, wenn er nur wenige Stunden Schlaf gehabt hatte, saß er gern, wenn die Sonne aufging, auf der Terrasse bei seinem kleinen Fischteich und genoss bei einer Tasse Kaffee den frischen Nordwestwind. Herrlich, dachte er, hier zu wohnen, wo andere Urlaub machen.
Constanze rumorte schon oben herum. Sie kam auch runter und setzte sich stumm neben ihn. Dieser große, starke Mann gab ihr in seiner ruhigen Gelassenheit genau die Sicherheit, die sie im Moment brauchte.
„Auch ’n Kaffee, Mädchen?“, fragte er. Sie nickte. Er deutete mit dem Kopf zur Kaffeemaschine. Sie holte sich selber eine Tasse. Sie kam zurück und setzte sich wieder neben ihn. Peter Grendel sah sie nicht an, sondern blickte in den Himmel.
„Ann Kathrin hat mir einen Auftrag gegeben. Ich soll auf dich aufpassen und dich aus dem Verkehr ziehen. Und genau das werde ich auch tun. Irgendjemand ist wohl nicht gut auf dich zu sprechen.“Er sagte es, als müsse sie daran erinnert werden.
Sie nickte erneut. „Ja. Schutz kann ich gebrauchen.“
„Wenn dich niemand findet, wird dir auch niemand etwas tun.“Sie nickte. „Ja, das ist wohl wahr.“
„Ich werde mit der ersten Fähre nach Norderney fahren. Ich betreue dort eine große Baustelle. Fünfundvierzig Ferienwohnungen entstehen in einem Komplex.“
Noch begriff sie nicht, was das Ganze mit ihr zu tun haben sollte.
„Ich schlage vor, dass wir dir die Haare schneiden, einen
Blaumann anziehen und einen Helm aufsetzen. Du wirst mein neuer Lehrling. Na, sagen wir Praktikant. Einen Maurerlehrling suchen sie doch garantiert nicht, oder?“
Sie musste lachen. „Nein, garantiert nicht. Ich soll tatsächlich…“– „Ja“, sagte Peter. „Erstens bist du auf der Baustelle nicht alleine, meine Jungs und ich passen auf dich auf, und zweitens glaube ich nicht, dass dich dort jemand suchen wird.“Sie gab ihm recht.
„Dann verpassen wir dir einen Kurzhaarschnitt, und es geht los. Wie darf ich dich nennen? Such dir einen Jungennamen aus.“
Sie guckte ihn an, als wüsste sie keinen männlichen Vornamen. Peter Grendel schlug vor: „Wie wäre es mit Ubbo? Oder Tammo? Oder Habbo?“
Die Namen gefielen ihr alle gleich gut.
*
Rupert hatte seinen Helm immer noch nicht aufgesetzt. Ann Kathrin stand unten vor der Tür, Weller hinten im Garten. Rupert neben dem gekippten Fenster rechts neben der Eingangstür.
Unten waren alle Rollläden heruntergelassen, oben alle Fenster gekippt.
Ann Kathrin klingelte erst einmal, obwohl Weber ihr seinen Schlüssel zur Wohnung gegeben hatte. Rupert fummelte an seinem Parabolmikrophon herum. Er war noch nicht so weit.
Dieses Richtmikro ermöglichte ihm, selbst sehr leise geführte Gespräche in hundert
Metern Entfernung zu hören. Solange er das Ding benutzte, hatte er eine Ausrede, warum er keinen Helm trug. Der Kopfhörer hätte dabei gestört.
Rupert hielt das Mikro testweise zum Fenster hoch. Er hörte in der Wohnung Fliegen summen, aber sonst nichts. „Entweder“, raunte Rupert zu Ann Kathrin, „ist das Ding kaputt, oder da drinnen ist tote Hose. Ich höre nicht mal jemanden schnarchen.“
Ann Kathrin klingelte noch einmal. Rupert verzog erschrocken das Gesicht. Für seine Ohren war das gar nicht gut. Er hörte den Klingelton um ein Zehnfaches verstärkt.
„Scheiße!“, fluchte er. „Scheiße!“
Staatsanwältin Meta Jessen sah es und empfand es als kleine Strafe für Rupert. Immerhin musste der Einsatz solcher Abhörablagen vorher eigentlich richterlich genehmigt werden.
Da in der Ferienwohnung weiterhin alles ruhig blieb, schloss Ann Kathrin nun auf und gab gleichzeitig den Kollegen das Zeichen zum Go. Sie stürmte mit Weller in den Flur. Sie hielten beide ihre Dienstwaffen schussbereit und durchsuchten die unteren Zimmer.
Die SEKler hebelten oben zwei Fenster auf, während ihr Kollege die Tür zur Terrasse knackte. Es waren drei laute Geräusche, die praktisch zu einem verschmolzen. Jetzt reichte es Rupert. Er riss sich den Kopfhörer von den Ohren und ließ das Richtmikro fallen.
„Ja, bin ich denn hier der …“, fluchte er.
Als die Räume oben gesichert waren, verbeugte sich ein junger SEKler vor Ann Kathrin mit einer Geste, als wolle er die Braut ins Schlafgemach bitten.
„Der Vogel“, sagte er, „ist ausgeflogen.“
Als Ann Kathrin das Durcheinander sah, die herumgeworfenen Bücher und die umgekippten Möbel, wusste sie, dass sie es mit einem sehr wütenden Menschen zu tun hatte. Einem, der außer Kontrolle geraten war. Das hier sah nicht nach planvoller Berechnung aus, sondern nach einer impulsiven Handlung. Solche Täter neigten zu Gewaltausbrüchen.
Jetzt betrat auch Weber gemeinsam mit der Staatsanwältin das Gebäude. Claudius stob zwischen ihnen beiden durch, so dass Meta Jessen fast gefallen wäre. Er schrie: „Marvin? Marvin?“
Weber sah fassungslos auf das Chaos. Die Unordnung in seinem Haus kam ihm vor wie ein Symbol für sein Leben, in dem genauso aufgeräumt werden musste wie jetzt hier.
Weller hob ein paar Bücher auf und glättete die Seiten. Das hier hatte für ihn ein völlig kulturloser Banause veranstaltet. Leute, die ihre Wut gegen Bücher oder Kunstwerke richteten, bewegten sich für Weller auf dem gleichen Niveau wie die, die damals Bücher verbrannt hatten. Er wollte mit denen nichts zu tun haben. Er würde sie stoppen, wo immer es ihm möglich wäre, und er wünschte ihnen die Pest an den Hals. Hier lag einer seiner Lieblingsromane des ostfriesischen Krimiautors Peter Gerdes. Ein Buch, das er mal verliehen und nie wiederbekommen hatte. Der Rücken war gebrochen, das Titelbild abgeknickt. Weller kämpfte mit der Versuchung, das Buch einzustecken und zu Hause zu restaurieren. FORTSETZUNG FOLGT