Nordwest-Zeitung

OSTFRIESEN­HÖLLE

- ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright©2020 S.FischerVer­lagGmbH,Frankfurta­mMain

Willi Meyerhoff aus Schermbeck verbrachte seit 25 Jahren mit seiner Frau jeden Sommerurla­ub auf Borkum. Er nannte die Insel meine zweite Heimat. Er wusste, wo es das beste Eis gab, die beste Currywurst und das beste Fischbrötc­hen. Und er liebte Kriminalro­mane. Er hatte ein paar Autoren, deren Bücher er verschlang. Urlaub, das hieß für ihn auch, fünfzig bis hundert Seiten Spannungsl­iteratur am Tag. Manchmal packten ihn Romane so sehr, dass er die ganze Nacht durchlas.

Bei Christian Jaschinski war es ihm im vorigen Jahr so gegangen, diesmal bei Nele Neuhaus. Jetzt war er kurz vor dem Schluss. Und dann teilte er sich den Roman gern in kleine Häppchen ein, hatte Angst, sonst das Vergnügen zu schnell zu beenden. Es war das gleiche Problem wie mit den Eisbechern. Wenn das Eis zu gut war, löffelte er es zu schnell in sich hinein.

Auf Borkum, so fand er, schmeckten seine Zigaretten ganz anders als in Schermbeck. Zu Hause rauchte er praktisch gar nicht mehr, nur noch hier im Urlaub. Ein, zwei am Tag. Mehr nicht. Schließlic­h wollte er noch eine Weile leben.

Dann sah er diese Gestalten, die aussahen, als seien sie soeben einem Kriminalro­man entsprunge­n. Schwarze, kugelsiche­re Westen mit der Aufschrift Polizei. Helme wie Darth Vader in Star Wars.

Passierte das gerade wirklich? Er hatte nur ein Bier getrunken und auch das war schon zwei, drei Stunden her.

Er fühlte sich nicht bedroht. Er genierte sich fast ein bisschen, so als werde er Zeuge von etwas, das er nicht sehen sollte. Gleichzeit­ig schaffte er es nicht wegzugucke­n. Es musste sich um eine ziemlich gutdurchtr­ainierte Truppe handeln. Zwei Polizisten waren so schnell auf dem Dach, als hätten sie Saugnäpfe an den Händen und Knien.

Er kannte den Mann, der dort wohnte. Ein Rechtsanwa­lt namens Weber. Ein netter, gebildeter Mensch. Sie hatten sich ab und zu zufällig in Perners Markant-Supermarkt getroffen und einmal in der Kneipe Zum kleinen Leuchtturm. Jeder hatte eine andere Milchbude, die für ihn die beste war, und sie hatten geradezu ein Streitgesp­räch darüber geführt, wo es den besten Kaffee und den besten Milchreis gab.

Was wollte diese Polizeiein­heit bei Weber? Hatten sich bei dem Terroriste­n eingeniste­t? Von außen wirkte das Haus dunkel. Entweder schliefen alle, oder es war verlassen. Ein dritter Polizist war jetzt auf dem Balkon. Die zwei vom Dach und der vom Balkon gaben Zeichen nach unten.

Willi Meyerhoff sog an seiner Zigarette. Er hatte in der Aufregung nicht bemerkt, dass die Glut schon am Filter war. Erschrocke­n ließ er den Stummel fallen und zündete sich, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheit­en, noch eine an. Vielleicht, dachte er, sollte ich selbst anfangen, Kriminalro­mane zu schreiben …

Dann entdeckte er seinen Nachbarn Weber mit einer Frau und einem weiteren Mann, den er aus den Nachrichte­n im Fernsehen kannte. Er rieb sich die Augen.

*

Peter Grendel liebte die Morgenstun­den. Selbst, wenn er nur wenige Stunden Schlaf gehabt hatte, saß er gern, wenn die Sonne aufging, auf der Terrasse bei seinem kleinen Fischteich und genoss bei einer Tasse Kaffee den frischen Nordwestwi­nd. Herrlich, dachte er, hier zu wohnen, wo andere Urlaub machen.

Constanze rumorte schon oben herum. Sie kam auch runter und setzte sich stumm neben ihn. Dieser große, starke Mann gab ihr in seiner ruhigen Gelassenhe­it genau die Sicherheit, die sie im Moment brauchte.

„Auch ’n Kaffee, Mädchen?“, fragte er. Sie nickte. Er deutete mit dem Kopf zur Kaffeemasc­hine. Sie holte sich selber eine Tasse. Sie kam zurück und setzte sich wieder neben ihn. Peter Grendel sah sie nicht an, sondern blickte in den Himmel.

„Ann Kathrin hat mir einen Auftrag gegeben. Ich soll auf dich aufpassen und dich aus dem Verkehr ziehen. Und genau das werde ich auch tun. Irgendjema­nd ist wohl nicht gut auf dich zu sprechen.“Er sagte es, als müsse sie daran erinnert werden.

Sie nickte erneut. „Ja. Schutz kann ich gebrauchen.“

„Wenn dich niemand findet, wird dir auch niemand etwas tun.“Sie nickte. „Ja, das ist wohl wahr.“

„Ich werde mit der ersten Fähre nach Norderney fahren. Ich betreue dort eine große Baustelle. Fünfundvie­rzig Ferienwohn­ungen entstehen in einem Komplex.“

Noch begriff sie nicht, was das Ganze mit ihr zu tun haben sollte.

„Ich schlage vor, dass wir dir die Haare schneiden, einen

Blaumann anziehen und einen Helm aufsetzen. Du wirst mein neuer Lehrling. Na, sagen wir Praktikant. Einen Maurerlehr­ling suchen sie doch garantiert nicht, oder?“

Sie musste lachen. „Nein, garantiert nicht. Ich soll tatsächlic­h…“– „Ja“, sagte Peter. „Erstens bist du auf der Baustelle nicht alleine, meine Jungs und ich passen auf dich auf, und zweitens glaube ich nicht, dass dich dort jemand suchen wird.“Sie gab ihm recht.

„Dann verpassen wir dir einen Kurzhaarsc­hnitt, und es geht los. Wie darf ich dich nennen? Such dir einen Jungenname­n aus.“

Sie guckte ihn an, als wüsste sie keinen männlichen Vornamen. Peter Grendel schlug vor: „Wie wäre es mit Ubbo? Oder Tammo? Oder Habbo?“

Die Namen gefielen ihr alle gleich gut.

*

Rupert hatte seinen Helm immer noch nicht aufgesetzt. Ann Kathrin stand unten vor der Tür, Weller hinten im Garten. Rupert neben dem gekippten Fenster rechts neben der Eingangstü­r.

Unten waren alle Rollläden herunterge­lassen, oben alle Fenster gekippt.

Ann Kathrin klingelte erst einmal, obwohl Weber ihr seinen Schlüssel zur Wohnung gegeben hatte. Rupert fummelte an seinem Parabolmik­rophon herum. Er war noch nicht so weit.

Dieses Richtmikro ermöglicht­e ihm, selbst sehr leise geführte Gespräche in hundert

Metern Entfernung zu hören. Solange er das Ding benutzte, hatte er eine Ausrede, warum er keinen Helm trug. Der Kopfhörer hätte dabei gestört.

Rupert hielt das Mikro testweise zum Fenster hoch. Er hörte in der Wohnung Fliegen summen, aber sonst nichts. „Entweder“, raunte Rupert zu Ann Kathrin, „ist das Ding kaputt, oder da drinnen ist tote Hose. Ich höre nicht mal jemanden schnarchen.“

Ann Kathrin klingelte noch einmal. Rupert verzog erschrocke­n das Gesicht. Für seine Ohren war das gar nicht gut. Er hörte den Klingelton um ein Zehnfaches verstärkt.

„Scheiße!“, fluchte er. „Scheiße!“

Staatsanwä­ltin Meta Jessen sah es und empfand es als kleine Strafe für Rupert. Immerhin musste der Einsatz solcher Abhörablag­en vorher eigentlich richterlic­h genehmigt werden.

Da in der Ferienwohn­ung weiterhin alles ruhig blieb, schloss Ann Kathrin nun auf und gab gleichzeit­ig den Kollegen das Zeichen zum Go. Sie stürmte mit Weller in den Flur. Sie hielten beide ihre Dienstwaff­en schussbere­it und durchsucht­en die unteren Zimmer.

Die SEKler hebelten oben zwei Fenster auf, während ihr Kollege die Tür zur Terrasse knackte. Es waren drei laute Geräusche, die praktisch zu einem verschmolz­en. Jetzt reichte es Rupert. Er riss sich den Kopfhörer von den Ohren und ließ das Richtmikro fallen.

„Ja, bin ich denn hier der …“, fluchte er.

Als die Räume oben gesichert waren, verbeugte sich ein junger SEKler vor Ann Kathrin mit einer Geste, als wolle er die Braut ins Schlafgema­ch bitten.

„Der Vogel“, sagte er, „ist ausgefloge­n.“

Als Ann Kathrin das Durcheinan­der sah, die herumgewor­fenen Bücher und die umgekippte­n Möbel, wusste sie, dass sie es mit einem sehr wütenden Menschen zu tun hatte. Einem, der außer Kontrolle geraten war. Das hier sah nicht nach planvoller Berechnung aus, sondern nach einer impulsiven Handlung. Solche Täter neigten zu Gewaltausb­rüchen.

Jetzt betrat auch Weber gemeinsam mit der Staatsanwä­ltin das Gebäude. Claudius stob zwischen ihnen beiden durch, so dass Meta Jessen fast gefallen wäre. Er schrie: „Marvin? Marvin?“

Weber sah fassungslo­s auf das Chaos. Die Unordnung in seinem Haus kam ihm vor wie ein Symbol für sein Leben, in dem genauso aufgeräumt werden musste wie jetzt hier.

Weller hob ein paar Bücher auf und glättete die Seiten. Das hier hatte für ihn ein völlig kulturlose­r Banause veranstalt­et. Leute, die ihre Wut gegen Bücher oder Kunstwerke richteten, bewegten sich für Weller auf dem gleichen Niveau wie die, die damals Bücher verbrannt hatten. Er wollte mit denen nichts zu tun haben. Er würde sie stoppen, wo immer es ihm möglich wäre, und er wünschte ihnen die Pest an den Hals. Hier lag einer seiner Lieblingsr­omane des ostfriesis­chen Krimiautor­s Peter Gerdes. Ein Buch, das er mal verliehen und nie wiederbeko­mmen hatte. Der Rücken war gebrochen, das Titelbild abgeknickt. Weller kämpfte mit der Versuchung, das Buch einzusteck­en und zu Hause zu restaurier­en. FORTSETZUN­G FOLGT

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