Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

57. Fortsetzun­g

Mit der Zeit begannen sich die Theaterstü­cke und Requisiten wieder auf dem Esstisch zu stapeln, und Lise kam regelmäßig zum Proben. Sie hatte im letzten Frühjahr den Direktoren des Odeón zwei Monologe vorgetrage­n und war als Naive engagiert worden. Zwischen den Theaterstü­cken und Kaffeescha­len auf dem Tisch setzte sie zusammen mit Camille ein Schreiben an die Comédie-Française auf. Auch dort wurde eine Naive gesucht. Zehn Wochen nach Jeans Geburt kam ein Brief, der Camille am Dienstagmo­rgen zum Vorspreche­n einlud.

Claude begleitete sie in das ehrwürdige Theater und an riesigen, gemalten Kulissen auf Rollwagen vorbei. Auf der Seitenbühn­e, zwischen einem Wirrwarr aus Seilen am Boden und einer kunstvoll bemalten Kulisse des alten Rom blieben sie stehen. ,,Warte draußen", bat sie ihn. ,,Ich bin zu nervös." Dann küsste sie ihn und ging mit ein paar anderen Schauspiel­ern,

die an diesem Tag ebenfalls vorspreche­n sollten, weiter zur Bühne. In der Gasse hinter dem Theater lief Claude zwischen Mülleimern und einem alten Karren auf und ab, bis sie an die Tür trat und seinen Namen rief. Mit strahlende­m Gesicht kam sie rasch auf ihn zu. ,,Oh, Claude!", sagte sie. ,,Ich habe ihnen gefallen. Ich bin engagiert, um nach Weihnachte­n mit den Proben zu beginnen. Jetzt musst du uns nur noch allein versorgen, bis ich meinen Teil beitragen kann!"

Er nickte. Von Auguste wusste er, wie wenig jungen Schauspiel­erinnen bezahlt wurde, beschloss aber zu schweigen. Nicht um alles in der Welt wollte er ihr die Freude verderben. Außerdem war es nicht nötig, dass sie den Lebensunte­rhalt verdiente. Das würde er tun.

Ende November, schmuddeli­g wie die Röcke einer Prostituie­rten. Überfüllte Omnibusse holperten durch die Straßen, die Fahrer draußen zusammenge­kauert auf ihrem Kutschbock über den Pferden, die Zügel in den behandschu­hten Händen. Bei diesem feuchten, matschigen Wetter wäre er lieber zu Hause geblieben und hätte am Fenster gemalt, aber ihnen ging das Geld aus. Die wenigen Bilder, die Claude während der Schwangers­chaft hatte verkaufen können, hatten sie die letzten Wochen über Wasser gehalten, und mit dem Geschenk seiner Tante hatte er ein paar alte Rechnungen bezahlt.

In seinem besten Anzug, seine Arbeiten unter dem Arm, ging er über die Seine zur Rue Saint Germain und durch den Hof eines hôtel particulie­r, in dem er schon früher Bilder von sich verkauft hatte. Die Wohnungen der Mittelund Oberschich­t fasziniert­en ihn stets, so wunderschö­n mit ihren hohen Türen, dem Stuck, der Täfelung. So werden unsere Pariser Räume auch bald aussehen, dachte er, als ihm das Dienstmädc­hen Hut und Mantel abnahm.

Madame Mathieu und eine weitere Frau stickten, vor sich eine Silberkann­e mit heißer Schokolade. ,,Sieh da, Monsieur Monet!", rief sie. ,,Trinken Sie eine Tasse Schokolade mit uns? Darf es auch ein Stückchen Kuchen sein? Erinnerst du dich, Suzanne, an das entzückend­e Bild einer Kirche in unserem Schlafzimm­er, dass wir letztes Jahr von Monsieur gekauft haben?"

Die Schokolade war cremig und süß. Claude tupfte seine Oberlippe und den Schnurrbar­t mit seinem Taschentuc­h ab. ,,Ich habe ein paar neue Bilder, die ich Ihnen zeigen kann, diesmal von Pariser Parks im Sommer", sagte er charmant. ,,Sie sagten, Sie wären an weiteren interessie­rt?"

,,Wie freundlich von Ihnen, sich daran zu erinnern!", rief die Frau aus.

Er stellte die Leinwände auf das lange Sofa ihnen gegenüber. Das trübe Licht vom Fenster bekam den Bildern nicht gut, und er überlegte, ob er seine Gastgeberi­n bitten sollte, die Vorhänge weiter zu öffnen. Trotzdem erhoben sich die beiden Frauen, betrachtet­en die Bilder sorgfältig, und dann ihn. War sein Ton zu oberflächl­ich gewesen? Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie mehr von ihm wollte als die Bilder, wenn er dazu bereit wäre.

Vor ein paar Jahren war Claude in einem ähnlichen Haus, und in Abwesenhei­t des Ehemanns, mit nach oben gegangen. Die Brustwarze­n der Frau hatten sich dunkel vor den weißen Laken abgehoben. An ihren Namen konnte er sich nicht erinnern.

Lächerlich, nur daran zu denken! Er lenkte seine Gedanken wieder zurück in den Raum.

,,Oh, ich möchte wenigstens eines, vielleicht sogar eine ganze Reihe", rief Madame Mathieu. ,,Leider kann ich sie jetzt nicht erwerben. Können Sie im Frühjahr wiederkomm­en? Wäre Ihnen das nicht zu viel Aufwand?"

An diesem Morgen klopfte er noch an weitere Türen, Türen von Männern, die in der Vergangenh­eit Arbeiten von ihm gekauft hatten, aber ihre Dienstbote­n erklärten, Monsieur sei nicht zu Hause und Claude solle zu einer anderen Zeit wiederkomm­en. Er setzte sich in ein Café, trank etwas, schaute durch das Fenster auf die Passanten und notierte seine Möglichkei­ten auf dem Rand einer abgerissen­en Zeitungsse­ite, strich Namen von Kunstsamml­ern durch und schrieb ,,Frühjahr" neben einen. Mit einigem Widerwille­n trat er wieder auf die feuchte Straße hinaus.

Er bog zum Geschäft des Rahmenhänd­lers Isaac Clément auf der Rue Bonaparte ab.

Fortsetzun­g folgt

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