Europas Angst vor dem 1. Januar 2021
Wie viel Zeit bleibt noch, um eine Trennung von Großbritannien ohne Deal abzuwenden?
Brüssel – Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag harte Vertragsarbeit leisten. Als dieser EU-Gipfel geplant wurde, ging man davon aus, dass der neue Handelsvertrag zwischen der Union und Großbritannien fertig auf dem Tisch liegen würde. Schließlich sind es noch gerade mal zweieinhalb Monate, bis das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet – und alle strittigen Fragen sind unbeantwortet.
Rund um die Uhr
Kurz vor dem Gipfel hatten der britische Premier Boris Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel noch miteinander telefoniert. London will nun im Lichte der Ergebnisse des EU-Spitzentreffens entscheiden, wie man sich verhalten werde. Spätestens Montag wird eine Antwort von der Insel erwartet.
Man darf gespannt sein, denn in Brüssel hielten die 26 Staats- und Regierungschefs (der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki fehlte, weil er sich in Quarantäne begeben musste) ihre Linie vor allem in einem Punkt durch: Die EU, so betonten Diplomaten, werde „den Verhandlungstisch sicher nicht verlassen“. Soll heißen: Wenn Johnson die Gespräche beenden will, muss er das tun und dafür auch geradestehen.
Deshalb notierten die Staatenlenker lediglich ihre „Besorgnis“, weil die Fortschritte bei den wichtigsten Fragen „noch nicht ausreichend“seien. Jetzt müsse man intensiver miteinander reden. So formulierte man am Donnerstagabend für das Schlussdokument des Gipfels. Mehr gab es für Johnson nicht.
Was den europäischen Staats- und Regierungschefs nun vorschwebt, ist ein Aufbruch: Ab kommenden Montag solle rund um die Uhr und ohne Unterbrechung an den Wochenenden weiter verhandelt werden. Denn ohne Deal droht am 1. Januar zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union das blanke Chaos.
Im Stau
Zwar hat man in Brüssel inzwischen vorgesorgt und einseitig Übergangsregelungen für mehr als 100 Einzelfragen beschlossen, die bis zu 18 Monate Bestand haben sollen. Es geht beispielsweise um die über 2000 Medikamente, die ihre Zulassung für den EUMarkt in Großbritannien erworben haben. Diese Zertifizierung würde entfallen. Betroffen sind auch die Luftverkehrskontrolle, der Flug-, Schiffs- und Straßenverkehr. Alles ist dringend notwendig, um die Versorgung der Menschen nicht zu riskieren. Die Vorstellung, so sagte ein Regierungsdiplomat, dass „ab dem 1. Januar Lkw mit wichtigen Gütern auf britischer oder europäischer Seite im Stau stecken und die Ladungen vergammeln, obwohl diese Lieferungen gerade in der CoronaKrise dringend gebraucht werden, ist unvorstellbar.“Das Bild käme einer europäischbritischen Realität ohne Deal wohl ziemlich nahe.