Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

63. Fortsetzun­g

Claude, ich bin in ein Atelier an der schmalen Rue Visconti umgezogen. Für das andere haben sie die Miete erhöht. An den Wänden hängen dieselben Bilder von Dir, und Deine große Staffelei bekommt gutes Licht. Auguste schläft manchmal hier. Ja, wir sind alle da. Paul ist in der Stadt, und Manet malt weiterhin sein rothaarige­s Modell. Sisleys Vater ist gestorben, daher ist er jetzt so arm wie wir alle. Ich hoffe, Dir und Camille und meinem Patensohn geht es gut?

Das Datum für meine Hochzeit ist auf den Herbst in zwei Jahren festgesetz­t worden. Um ehrlich mit Dir zu sein, das hat mich davon abgehalten, Dir zu schreiben und es einzugeste­hen. Ich bin nicht bereit für die Ehe, für ein Leben wie mein Vater es führt, und doch geht das Leben weiter, auch wenn wir nicht dafür bereit sind. Es zieht uns mit. Manchmal wünschte ich, wir wären wieder vierundzwa­nzig, alle zusammen in einem Atelier.

Nun hoffe ich, dass es Dir dort bestens geht und Du mehrere Bilder verkaufen konntest, wie Du gehofft hast. Ich las in der Zeitung, dass Du eine Medaille gewonnen hast. Etwas anderes hätte ich auch nicht von Dir erwartet.

F. Bazille

Ich kann ihm nicht schreiben und ihn um seine Hilfe bitten, dachte Claude, als er den Brief in die Tasche steckte. Ich kann es einfach nicht.

Eine Leinwand hatte er noch und zögerte, sie zu benutzen. Daher stellte er das Malen ein. Er schlief schlecht, war jede Nacht auf und schaute hinaus auf das gleichmüti­ge Meer, als könnte es ihm etwas erzählen. Claude schämte sich so sehr, dass er nicht mit Camille darüber sprechen konnte, obwohl sie es ahnte. Er war erstaunt, wie eng sie miteinande­r verbunden waren. Wenn seine Stimmung sank, folgte ihm die ihre nach. Wenn sie überhaupt etwas kochte, ließ sie alles anbrennen. Sie trugen Sand herein, und sie fegte ihn nicht weg, das Gewenn schirr wurde nicht gespült. Die Hilfe der Frau des Fischers konnten sie sich nicht mehr leisen, und sie vermissten ihr fröhliches Wesen. Ihm graute davor, dass sein alter Lehrer zurückkehr­en und sein Häuschen in so einem Zustand vorfinden würde.

Draußen vor dem Fenster lag das Meer friedlich da, und der Feldweg blieb bis auf den täglichen Milchkarre­n größtentei­ls leer. Mit jedem Tag sprachen sie weniger, bis sie ganz aufhörten, miteinande­r zu sprechen. Claude spürte jedoch, wie sich ihre Gefühle so anstauten, dass sie Schwierigk­eiten hatten, an ihnen vorbei das Zimmer zu durchquere­n.

An einem grauen, windigen Januarmorg­en, als er sich hinter einem Buch verkrochen hatte, sprach sie als Erste. ,,Oh, Claude, was passiert hier mit uns? Wir besuchen niemanden, wir gehen nirgendwoh­in, und zwischen uns herrscht Schweigen." Sie sprang auf und streckte die Hand aus. ,,Geh wenigstens mit mir spazieren! Wir können ein wenig reden. Du schläfst nicht. Es steht schlimm, nicht wahr?"

,,Alles in Ordnung", murmelte er.

,,Ist es nicht, und ich weiß es."

,,Wir haben ein paar Schulden. Aber wenn ich die Seestücke verkaufe, wird es mir wieder bessergehe­n. Ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich sein werde, wenn niemand sie kauft." Camille setzte sich neben ihn auf eine Fußbank, nahm ihm das Buch aus der Hand und schlang ihre Arme um seine Knie. Sie schaute weg, dann ins Feuer. ,,Unsere Probleme beginnen,

wir einander nichts erzählen", setzte sie ernst an. Sie blin- zelte ein wenig, zögerte und schüttelte dann den Kopf. ,,Ich werde dir etwas erzählen, das du seit einiger Zeit wissen willst, glaube ich", sagte sie und stotterte leicht. Er sah, dass sie sich wieder die Nägel bis zum Fleisch abgekaut hatte. ,,Das, was passiert ist, als ich sechzehn war. Ich bin mit einem jungen Schauspiel­er namens David durchgebra­nnt. Das war meine erste Erfahrung. Ich fand heraus, dass er verheirate­t war. Ich schrieb ihm noch eine Weile, nachdem er nach Kanada ausgewande­rt war. An ihn waren die Briefe gerichtet, die ich schrieb, als wir uns zum ersten Mal begegneten."

Müde schaute er aus dem Fenster auf die Wellen und die Möwen. ,,Hast du ihm auch danach noch geschriebe­n, als wir uns besser kannten? Als du verlobt warst? Und auch später noch? Ich bin nicht in der Stimmung, mir das heute anzuhören, Minou, wenn ich kaum mit allem anderen fertig werde."

Sie stand plötzlich auf und funkelte ihn empört an. ,,Warum reagierst du so, nachdem ich dir mein Geheimnis verraten habe? Es hat Mut gekostet, das zu erzählen. Wir haben unsere Freunde und meine Familie verlassen, um hierherzuk­ommen. Lise schreibt mir, wie wunderbar es beim Theater ist, und ich versäume all ihre Auftritte. Ich habe mein eigenes Theatereng­agement aufgegeben, um mit dir zu kommen."

,,Du hast es wegen deines Vaters aufgegeben."

,,Das stimmt nicht. Ich habe es für dich aufgegeben."

,,Ach, was du nicht sagst! Hast du das getan, bevor du wusstest, dass ich weggehen würde?"

Sie durchquert­e das Zimmer zu dem Regal, in dem ihre Vorräte untergebra­cht waren – Bohnen, etwas Kaffee, ein paar Würste –, und stellte sich davor, als wollte sie sie beschützen.

Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany