Von der Perfektion bis zum Untergang
60 Jahre Lancia Flavia – Noble italienische Marke scheiterte an zu hohen Kosten
Turin – Der Lancia Flavia verkörperte alles, was einen neuen Lancia 1960 ausmachte – und was letztlich zum Untergang der noblen italienischen Traditionsmarke führen sollte: Qualität und Technik vom Feinsten ohne Rücksicht auf Kosten.
Hinzu kam exklusive Sportlichkeit in Form gleich dreier Gran Turismo aus den Ateliers von Stardesignern. Pininfarina zeichnete für den Flavia ein Coupé, das die Linien des Ferrari 250 GT adaptierte, Zagato kreierte die eigenwillig konturierte Motorsportversion Flavia Sport, und ein verführerisches Flavia Cabriolet kam von Vignale.
Vor allem aber sorgte die rund 4,60 Meter lange Flavia Berlina für Furore, die mit neu entwickeltem Boxermotor und als erstes italienisches Großserienmodell mit Frontantrieb sowie Benzineinspritzung einen Futurismus bot, der Connaisseurs begeisterte. Zumindest in Italien, denn auf Exportmärkten wie Deutschland kostete der VierzylinderLancia mehr als ein repräsentativer Opel Kapitän und fast so viel wie eine Mercedes SKlasse. Seine Exklusivität demonstrierte der Flavia auch durch bewussten Verzicht auf
die sonst bei Businesslinern angesagten verchromten Heckflossen.
Progressive Ideen
Vier Scheibenbremsen mit zwei Bremskreisen und Bremskraftverstärker bot keiner der Lancia-Konkurrenten. Flavias geteilte Lenksäule und Fixpunkte für Sicherheitsgurte waren progressiv, jener unvergleichlich satte Ton der schließenden Türen fand sich
nicht einmal bei Rolls-Royce, gar nicht zu reden von den roten Warnleuchten in den extra weit öffnenden Portalen und Vorhängen aus feinstem italienischem Tuch für die Fondpassagiere. Dazu die bis ins Dach gezogenen hinteren seitlichen Panoramascheiben beim Flavia Sport inklusive eines Wechselspiels aus konkav und konvex gewölbten
Fensterflächen. Oder der via Hebel begrenzbare Einschlag der Vorderräder beim Einsatz von Schneeketten, kurz der Einfallsreichtum der FlaviaKonstrukteure kannte keine Grenzen. Schließlich galt es, das beste Auto der Mittelklasse zu bauen und so die Krisen der Vergangenheit vergessen zu lassen.
Zuletzt hatte die technikverliebte Marke Lancia 1955 vor dem finanziellen Kollaps gestanden und die Familie Lancia war gezwungen gewesen, ihre Firmenanteile an den Bauunternehmer Carlo Pesenti zu verkaufen. Dieser hatte Antonio Fessia angeworben und mit der Entwicklung zweier Volumenmodelle beauftragt, die unterhalb des staatstragenden Flaminia positioniert werden sollten. Es war die Geburtsstunde für die Modelle Flavia und Fulvia.
Übernahme durch Fiat
Der 1,5-Liter-VierzylinderBenziner des gewichtigen Flavia entwickelte lediglich 57 kW/78 PS und das nur bei hohen Drehzahlen. So konnten Wettbewerber nicht auf Distanz gehalten werden. Auch Flavia Coupé, Cabrio und Sport erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen erst mit nachgelegten 1,8-Liter-Motoren, die maximal 77 kW/105 PS aufboten.
Als 1969 ein 2,0-Liter-Spitzenaggregat alle Leistungsdiskussionen obsolet machte, war es um die Unabhängigkeit von Lancia bereits geschehen. Obwohl Lancia noch 1967 ein Allzeithoch mit 43 000 ausgelieferten Autos feierte, folgten zwei Jahre später das finanzielle Aus und die Übernahme durch Fiat. Die Karriere des Flavia fand unter Fiat eine vorläufige Fortsetzung, facegeliftet nannten sich Berlina und Coupé nun Lancia 2000. Erst 1974 war endgültig Schluss. Allein das Konzept aus Boxermotor und Vorderradantrieb lebte weiter – im 1976 vorgestellten Lancia Gamma.