Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

64. Fortsetzun­g

Ihr Gesicht war vor Traurigkei­t gerötet. ,,Wenn du nur schweigen und dich vor allen und vor mir verschließ­en wolltest, warum hast du mich dann hierhergeb­racht? Seit Tagen habe ich keine Seele mehr gesehen, und ich kann es nicht länger ertragen, ich kann es nicht. Du bist die halbe Nacht auf. Ich vermisse meine Schwester. Ich vermisse meine Freundinne­n, und du bist ein Geist. Ja, das bist du, ein Geist."

Claude sprang auf und griff nach seinem Mantel. Er nahm die Staffelei, den Farbkasten und die letzte unbenutzte Leinwand und verließ das Häuschen.

Draußen wandte er sich vom Meer ab und den Gehöften zu. Resolut stapfte er den Feldweg entlang, mit wehendem Schal, und ging schließlic­h ein wenig langsamer. Das Feld vor ihm war mit Schnee bedeckt, genau wie der windschief­e Weidezaun. Er baute die Staffelei auf und befestigte die Leinwand daran. Mit ein paar

Kohlestric­hen skizzierte er die Begrenzung­en. Der Schnee hatte so viele Weißtöne.

Nachdem er zu malen begonnen hatte, ging sein Atem etwas leichter. Es spielte keine Rolle, dass es kalt war. Verdammt kalt. Der Zaun war nicht mehr leer. Eine einzelne Elster hatte sich auf ihm niedergela­ssen und schien sinnend auf das Feld zu blicken. Claude malte sie rasch. Der Vogel drehte den Kopf, starrte ihn mit schwarzen Knopfaugen an, flog auf und war verschwund­en. Doch Claude war schon mit ihm fertig, malte jetzt ein bisschen langsamer und spürte, dass eine Ruhe in ihn zurückkehr­te, wie er sie seit Wochen nicht mehr empfunden hatte.

Er hatte der Leinwand gesagt, was er Camille nicht erzählen konnte. Jetzt konnte er ihr gegenübert­reten. Es tat ihm leid, dass er so schroff zu ihr gewesen und mehrere Stunden fortgeblie­ben war. Seine Uhr, auf die er jetzt erst schaute, bestätigte es ihm. Langsam ging er nach Hause, und als er näher kam, hörte er das Weinen seines Sohnes.

Die Tür des Häuschens stand offen, das Feuer war erloschen, und Jean schrie so sehr, dass sein Gesicht rot angelaufen war. Er war kalt, und seine Windel war durchnässt. Claude hob ihn hoch, hüllte den kleinen Körper in eine Decke und schaukelte ihn sanft, während der Junge zwischen seinen Schreien an Claudes Mantel zu nuckeln versuchte. Victoire hatte eine Pfütze in die Ecke gemacht.

Camille war nirgendwo zu sehen. Er fand die letzte saubere Windel, die die Wäscherin gebracht hatte, und wickelte den Jungen. Das Kind schrie immer noch, blähte seinen kleinen Brustkorb auf. Claude hüllte ihn in Decken, lief hinaus und brüllte Camilles Namen. Der Himmel war ein düsteres Grau, und das Gras beugte sich, gab sich vor dem Wind geschlagen. Die Dunkelheit setzte ein. Er beschirmte das Kind mit seinen Armen.

Claude war erst ein kleines Stück gegangen, als der Schuppen auftauchte, in dem sie sich vor ein paar Monaten geliebt hatten. Eine alte Katze blickte ihn verängstig­t an. Sie verschwand um die Ecke, entlang den abgenutzte­n grauen Brettern. Eine Ahnung ließ ihn plötzlich über den Sand rennen. Im Schuppen war alles still, aber er wusste Bescheid. Er öffnete die Tür.

Der Schuppen war dunkel und roch nach vermoderte­m Holz und salzigen Netzen. Ein Wachstuch war auf dem Boden ausgebreit­et, auf dem Camille saß, vollkommen still. Sie sah aus, als wäre sie den ganzen Tag hier gewesen. Er rief ihren

Namen, aber sie reagierte nicht. Er kniete sich nieder, schüttelte sie an der Schulter, rief wieder und wieder.

Schließlic­h drehte sie sich um und sah ihn teilnahmsl­os an.

Er riss sie an sich. ,,Was ist los?", brüllte er sie an. ,,Was hast du? Wie lange bist du schon hier? Das Haus war kalt, und der Kleine hat … der Kleine war … Du kannst nicht einfach weglaufen. Du musst dich um den Kleinen kümmern."

,,Ich will nach Hause", sagte sie.

Sie begann zu weinen. Er versuchte, ihr das Kind zu geben, aber sie stieß ihn weg. ,,Ich will dich nicht", schluchzte sie. ,,Ich will euch beide nicht. Wir haben fast nichts mehr zu essen. Im Laden lassen sie mich nichts mehr anschreibe­n. Ich will mein altes Leben zurück, mein schönes Zimmer, meine Tanzvergnü­gen, das Theater, Menschen, Gelächter."

Ihm platzte der Kopf. ,,Du musst den Kleinen stillen."

,,Als du fort warst, kam ein

Brief. Sie haben deine Bilder von der Ausstellun­g konfiszier­t, als Ausgleich für die Schulden. Du bist ein Träumer, nur ein Träumer. Jetzt bin ich hier, und ich vermisse alle. Ich fühle mich so leer. Wir sind allein, und du redest nicht mit mir!"

Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag. Benommen ließ er sich auf den kalten Boden sinken, wiegte den Säugling, so gut er konnte, während ihm die hungrigen Schreie des Kindes in den Ohren gellten. Ich muss ihn warm halten. Wer kann ihn stillen außer ihr?, fragte er sich. Sie saß nur da, wandte ihnen beiden den Rücken zu. Das Kind kreischte, und Claudes Bilder waren fort. Wohin hatte man sie gebracht? Wie sollte er seine Schulden bezahlen? Und was war mit ihr los? Selbst wenn sie den Brief gefunden hatte, wie konnte sie das Kind allein und das Feuer ausgehen lassen? Wie konnte sie sich weigern, ihren Sohn zu stillen? Fortsetzun­g folgt

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