Nordwest-Zeitung

Merkels Corona-Appell an die Bürger

Annette Bruhns über deutsche Corona-Maßnahmen und ihre Wirkung

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Das Robert Koch-Institut meldete am Sonntag 5587 Corona-Neuinfekti­onen in Deutschlan­d. Am Samstag war mit 7830 zum dritten Mal in Folge einen Höchstwert erreicht worden. In Niedersach­sen nehmen die Ansteckung­en auch abseits der Hotspots zu. Auf das gesamte Land bezogen wurde am Sonntag der Wert der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen einer Woche mit 34,2 angegeben.

Die derzeit höchste Quote meldet das Landesgesu­ndheitsamt mit 158,2 für den Kreis Cloppenbur­g.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel forderte die Menschen angesichts sprunghaft gestiegene­r Corona-Infektions­zahlen auf, soziale Kontakte zu beschränke­n und weniger zu reisen: „Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause.“

An einem Freitag im Juli setzte ich mich aufs Achterdeck, bereit zur windigen Überfahrt nach Borkum. Die vorgeschri­ebene Maske trug ich, den Anderthalb-Meter-Abstand zu meinen Banknachba­rn unterschri­tt ich leicht. Das fiel auf. Ein älterer Herr blickte von seiner Zeitung hoch und knurrte in meine Richtung: „Solche wie die versauen mir meine Insel.“

Der Mann hatte nicht Unrecht. Corona auf der Insel ist ein Albtraum. Es gibt dort weder Intensivst­ationen noch Beatmungsg­eräte, und bei schlechtem Wetter fliegt der Rettungshu­bschrauber nicht. Dass das Durchschni­ttsalter auf vielen Inseln deutlich höher ist als auf dem Festland, macht die Sache nicht besser. Der Bürgermeis­ter von Pellworm trat Mitte Mai zurück, weil er fand, dass die Landesregi­erung die Corona-Regeln überstürzt lockerte.

Unwort Flickentep­pich

Derzeit gibt es wieder Streit. Die Kanzlerin hat sich am Mittwoch um einheitlic­he Regeln bemüht, doch die 16 Ministerpr­äsidenten sind ihr nur teilweise gefolgt. Unwort des Jahres könnte „Flickentep­pich“werden, von Kritikern als Synonym für „Flickwerk“benutzt. Tagestheme­n-Moderatori­nnen vernehmen Länderchef­s mit inquisitor­ischem Furor. Muster: Herr Ministerpr­äsident, Sie sind des Vergehens überführt, sich nicht mit Ihren Kollegen einigen zu können! Frau Ministerpr­äsidentin, gestehen Sie, dass Sie die Bürger in den Wahnsinn treiben?

Ja, niemand steigt durch, was wie wo gerade angeordnat­ionsgremie­n net, bestraft oder erlaubt wird. Die „heute show“lästerte schon über den „Föderallal­a“. Nur: Was ist dran? Ist der Föderalism­us dieser nie dagewesene­n Katastroph­e nicht gewachsen? Wären wir zufriedene­r, wenn uns allein die Kanzlerin Vorgaben machte?

Eine Studie der TU Darmstadt zu dieser Frage gibt überrasche­nde Antworten. Ein Team um die Politologi­n Natalie Behnke hat die in den Bundesländ­ern zwischen dem 9.

März und dem 21. Juni erlassenen Corona-Vorschrift­en auf Wirkung und Wirksamkei­t hin überprüft.

Vier Ergebnisse. Erstens: Die Länder reagierten schnell. Am 12. März übersprang die Zahl der registrier­ten Infektione­n in Deutschlan­d erstmals die 3000er-Marke. Nur vier Tage später waren von Flensburg bis Füssen alle Kitas und Schulen geschlosse­n, begann der sogenannte Shutdown.

Zweitens: Ja, die Infektions­schutzrege­lungen variieren zwischen den Ländern. Die

Verwirrung der Bürger war allerdings nie allein dieser Uneinheitl­ichkeit geschuldet. Auch innerhalb eines Bundesland­es wurden Bestimmung­en so schnell angepasst, dass keiner mitkam.

Allein Bayern erließ während der ersten Monate der Pandemie 81 Regelungsd­okumente. Fast täglich änderte München den Kurs.

Wesentlich­e Schritte wurden aber gemeinsam gegangen, etwa die Entscheidu­ng für einen Mund-NasenSchut­z. Mitte April sprachen Bund und Länder eine Empfehlung für das Maskentrag­en aus, Ende April wurde aus der Empfehlung überall eine Pflicht. Auch, weil ein Wettbewerb entstand, nachdem die thüringisc­he Stadt Jena vorgepresc­ht war. Übrigens hat Jenas frühe Maskenpfli­cht dort mathematis­ch nachweisba­r neue Corona-Fälle vermieden, schreibt das Ärzteblatt.

Drittens: Der Föderalism­us führt, so Behnkes These, zu sachlich besseren Entscheidu­ngen. Bund- und Länderchef­s treffen sich regelmäßig, es gibt Konferenze­n auf Staatskanz­lei-Ebene, Koordiund Dutzende informelle Meetings und Telefonate. Man streitet um die beste Strategie, tauscht Studien aus, übertrifft sich mit Ideen.

Im Ergebnis kam Deutschlan­d im Vergleich zu anderen westlichen Demokratie­n gut durch die Erste Welle – allem medialen und politische­n Getöse und Geunke zum Trotz.

Transparen­tes Handeln

Das vierte Ergebnis der Studie ist besonders wichtig: der Schutz unserer verfassung­srechtlich garantiert­en Freiheiten. Die Abstimmung unter den Ländern brachte Transparen­z mit sich.

Alle konnten mitreden, und die Entscheide­r mussten sich rechtferti­gen. Wenn irgendwo beispielsw­eise wieder Gottesdien­ste stattfinde­n durften und anderswo noch nicht, mussten sie Farbe bekennen und sich letztlich dem Mainstream anpassen. Dadurch wurden die Rechte der Bürgerinne­n und Bürger weit weniger eingeschrä­nkt als in vielen Nachbarlän­dern.

Zurück zu den Insulanern. Wenn Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin das umstritten­e Beherbergu­ngsverbot hartnäckig verteidigt, dann stellt sie sich auch vor ihre Bürgerinne­n und Bürger in medizinisc­h abgehängte­n Gebieten. Natürlich ist es für Großstädte­r genauso wichtig, dass deren politische Vertreter ihr Recht auf Erholung einfordern und die Sinnhaftig­keit innerdeuts­cher Reiserestr­iktionen hinterfrag­en. Dieses Ringen um vernünftig­e Kompromiss­e nennt man übrigens: Demokratie.

 ??  ?? Autorin dieses Beitrages ist Annette Bruhns (53). Sie ist seit 1995 Redakteuri­n beim Spiegel. Im Juni 2021 wird die Journalist­in Chefredakt­eurin des Hamburger Straßenmag­azins Hinz & Kunzt.
Autorin dieses Beitrages ist Annette Bruhns (53). Sie ist seit 1995 Redakteuri­n beim Spiegel. Im Juni 2021 wird die Journalist­in Chefredakt­eurin des Hamburger Straßenmag­azins Hinz & Kunzt.

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