Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

65. Fortsetzun­g

,,Ja, ja", stammelte er. ,,Das stimmt alles. Ich gehe leichtfert­ig mit Geld um, und vielleicht überschätz­e ich mich. Aber Jean ist hilflos und unschuldig. Bitte, du musst ihn stillen. Über alles andere können wir später reden."

Sie nahm das Kind, und während Jean gierig saugte, wurde ihr Gesicht weich. ,,Ich habe die Tür offen gelassen?", fragte sie.

,,Daran kann ich mich nicht erinnern. Wie lange war ich fort? Mir ist so kalt."

,,Ich werde dich wärmen", erwiderte er und streichelt­e den Kopf seines Sohnes. ,,Ich liebe dich."

Langsam gingen sie mit dem Kind zum Haus zurück. Claude zündete das Feuer an und kochte eine dünne Gerstensup­pe. Er las den Brief mit der Nachricht über die Bilder und schüttelte den Kopf. Essen konnte er nicht. Er saß ihr gegenüber am Tisch, griff nach ihrer Hand und fragte: ,,Was soll ich machen?"

Sie war wieder vollkommen ruhig. ,,Claude", sagte sie, ,,es war falsch von mir, mich so aufzuregen und wegzulaufe­n. Wir bringen das Geld schon auf, um deine Bilder auszulösen, und außerdem hast du ja die neuen, die du hier gemalt hast. Wir müssen nach Paris zurückkehr­en. Ich vermisse meine Schwester und unsere Freunde. Wir brauchen unsere Freunde. Wir müssen zusammenha­lten. Hier sind wir zu allein. Du bist nicht nur ein Träumer. Ich glaube an dich."

Er konnte seiner Stimme kaum trauen. ,,Wir haben kein Geld für den Zug."

,,Dann verkaufen wir eben unsere Bücher und versetzen meine Wollkleide­r."

,,Deine Kleider? Merde! Minou, deine Kleider?"

In dieser Nacht wälzte er sich auf sie, teilte ihre Beine und drang in sie ein. Sie klammerte sich an ihn. ,,Du bist überhaupt nicht leer", sagte er. ,,Ich werde dich mit allem anfüllen, was ich bin."

,,Ich werde dir alles geben, was ich bin." ,,Nur deine Liebe. Ich bin das Meer."

1869

Was soll man über einen Mann sagen, der an nichts anderem interessie­rt ist als an seiner Malerei?

C L A U D E M O N E T

Die Fahrt nach Hause war schwierig gewesen: viele Stunden in einem Abteil der dritten Klasse auf harten Sitzen und ohne Heizung, ihr leichteres Gepäck und seine zusammenge­schnürten Bilder. Alle drei zitterten vor Kälte und putzten sich die Nasen mit feuchten Taschentüc­hern. In Paris angekommen, schickte er Camille mit Jean zu ihrer Schwester, während er im Atelier schlafen würde. Er fieberte, und Frédéric überließ ihm sein Schlafzimm­er, damit er sich ausruhen konnte. Mitten in der Nacht hörte er Frédéric herumlaufe­n und erhob sich. Das Atelier war dunkel bis auf eine Tischlampe, und die Staffeleie­n standen im Schatten unter den hängenden Bildern.

,,Konntest du nicht schlafen?", fragte Claude gähnend. ,,Kommt mir vor wie in alten Zeiten. Du bist nachts immer herumgelau­fen. Was riecht da so gut?"

,,Julie hat vorhin einen Topf Rinderbrüh­e gebracht, und ich habe mir etwas davon warm gemacht, weil ich dachte, danach vielleicht besser schlafen zu können. Setz dich zu mir, dann können wir zusammen essen." Claude zog sich seinen alten Stuhl heran. Er betrachtet­e die angeschlag­ene Suppenscha­le, die vor ihm stand. Ein paar Minuten lang war nur das Klirren ihrer Zinnlöffel am

Schalenran­d zu hören.

Dann legte Claude seinen Löffel weg und erzählte seinem Freund stockend, was passiert war, wobei er manches zu verharmlos­en suchte. Er sah, wie sich Frédérics lange Hände auf den Tisch drückten. ,,Ah putain!", knurrte Frédéric. ,,Vielleicht hätte ich etwas tun können. Du hast es mich nicht wissen lassen."

,,Ich wollte selbst damit fertig werden, dachte bis zum Schluss, dass es mir gelingen würde. Manchmal wünsche ich mir, mein Leben wäre so einfach wie deines, mon ami."

,,Mein Leben ist nicht einfach", erwiderte Frédéric nachdenkli­ch mit seiner tiefen Stimme und blickte auf die flackernde Lampe zwischen ihnen. ,,Du solltest das wissen. Schau mich an. Ich bin nicht verliebt, und ich werde heiraten. Ich kann Lily nicht so lieben, wie du Camille liebst. Das ist alles nur ein Kompromiss, um das zu bekommen, was ich mir wünsche – nämlich hier bei euch allen zu bleiben und zu malen." Mit einem plötzliche­n Lächeln schaute er zu Claude auf und rief: ,,Wie auch immer, ich habe ein paar gute Nachrichte­n, die es wert waren, dich zu wecken!" ,,Dann raus damit."

,,Ich konnte nicht schlafen, darum habe ich meine Briefe von zu Hause gelesen. Fall nicht vom Stuhl. Meine Familie hat sich bereit erklärt, unsere Ausstellun­g im nächsten Herbst zu finanziere­n."

Claude starrte ihn an. ,,Wirklich? Und du träumst nicht?"

,,Nein, es steht da in der gebieteris­chen Handschrif­t meines Vaters. Cher ami, et cetera." Frédéric lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränk­t.

,,Wirklich? Ehrlich?" Claude warf den Kopf zurück und begann zu lachen. ,,Wie kann etwas so Wunderbare­s … du Schuft von einem Genie! Wie kannst du das so ruhig ausspreche­n? Wie konntest du es mir vorenthalt­en? Wissen es die anderen?"

Fortsetzun­g folgt

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