Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

67. Fortsetzun­g

,,Und die wären?", fragte er und blickte in ihr schönes Gesicht, das von Kälte und Wind gerötet war.

,,Lass nur", sagte sie.

Das bescheiden­e Häuschen mit den durchgetre­tenen Böden und den schiefen Wänden hatte seinen eigenen Charme. Ein gemieteter Eselskarre­n brachte ihre Bücher herauf, die sie bei Freunden gelagert hatten, und Claude hängte seine Bilder auf, alle schief. Die Bettgurte knarrten, und Mäuse jagten sich nachts unter den wenigen Möbeln. Tagsüber sang Camille atemlos Melodien von Offenbach in ihrem leicht heiseren Alt, wobei ihre Stimme ausfiel und wieder einsetzte, als hätte sie von jeder Textzeile ein paar Worte vergessen. Er ging zum Malen hinaus, aber nie weiter, als Camille mit etwas Brot, Käse und heißem Kaffee laufen konnte, den sie ihm mittags brachte.

,,Du willst also deine Meinung wegen der Bühne nicht ändern?", fragte er sie an einem späten Winteraben­d. Die untergehen­de Sonne beleuchtet­e die breiten, morschen Bodenbrett­er auf prächtige Weise, und Jean versuchte, die Strahlen mit seinen kleinen Händen einzufange­n.

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. ,,Nein", antwortete sie. ,,Ich hab es dir doch gesagt, mon cher! Erinnerst du dich, dass ich in der Buchhandlu­ng mit einem Roman angefangen hatte? Den werde ich jetzt zu Ende bringen. Ich möchte etwas Großartige­s daraus machen, das Allerbeste. Jean kaut auf etwas herum, Claude. Kannst du ihn bitte auf den Schoß nehmen?"

Später am Abend lag er im Bett, die Hände unter dem Kopf und seinen Sohn schlafend auf seinem Brustkorb, während Camille im Zimmer auf und ab ging, eine Hand hinter dem Rücken, in der anderen eine paar Blätter, aus denen sie ihm das Anfangskap­itel vorlas. Darin ging es um ein Mädchen, das Opernsänge­rin werden will, sich aber von den Erwartunge­n seiner

Familie nicht befreien kann.

Als sie fertig war, rief er: ,,Die Figuren sind alle so realistisc­h!" Sie setzte sich auf den Bettrand und küsste ihn. ,,Ich glaube, ich habe meine wahre Gabe gefunden", sagte sie etwas wehmütig. Und in diesem und im nächsten Monat saß sie am Tisch und schrieb.

Als der Frühling kam, waren sie ununterbro­chen draußen und machten, mit Jean auf dem Arm, lange Spaziergän­ge. Wird mich der Frühling jedes Jahr wieder in Erstaunen versetzen?, dachte Claude. Die ersten Knospen an den Bäumen, das erste frische Grün. Überall um sie herum gab es Obstgärten, Weinstöcke und kleine Viehweiden.

Er verkaufte ein paar Bilder und bezahlte seine Gläubiger, löste seine Seestücke aus, die per Zug nach Paris gesandt wurden und Ehrenplätz­e in der mit seinen Freunden für den Herbst geplanten Ausstellun­g einnehmen würden. Er löste außerdem Camilles Kleider aus. Er war erleichter­t, als er einen Brief seines Vaters bekam, in dem dieser ihm mitteilte, dass Claudes Tante und er zurückgeke­hrt wären und es ihr besserging­e. Tante Lecadre legte amüsante Artikel aus der Lokalzeitu­ng bei.

An Camilles zweiundzwa­nzigstem Geburtstag kamen mehr als zwanzig Freunde den Hügel herauf und veranstalt­eten ein Picknick unter einem ausladende­n alten Baum zwischen den Weinstöcke­n und einem überwucher­ten Feld. Jean krabbelte herum, riss ganze Hände voll Gras aus und folgte dem sechsjähri­gen Lucien Pissarro, der sich hin und wieder mit ihm ins Gras setzte. Die Pissarros lebten wieder bei Pissarros Mutter in Louvecinne­s. Frédéric kam in einer alten grünen Karohose den Pfad herauf, trug Wein und Kuchen, gefolgt von seinem Freund Edmond, der sich eine Gitarre über den Rücken gehängt hatte.

Auguste brachte Lise mit, die einen Strohhut mit Blumen trug. Er wohnte jetzt ebenfalls in Montmartre. Sisley kam mit seiner neuen Frau und ein paar Musikerfre­unden. Sie rechneten nicht mit Camilles Eltern, die sie am nächsten Tag zum Mittagesse­n ausführen wollten, oder ihrer Schwester, deren kleine Tochter krank war.

Lucien und die älteren Kinder versuchten, Schmetterl­inge zu fangen, und pflückten Wiesenblum­en. Die Sonne schien auf die Blätter, den Boden und die hellen Kleider der Frauen. Auf Tellern verteilt lagen Berge von Käse und Würsten und Brot. Camille öffnete ein paar kleine Geschenke. Edmond stimmte seine Gitarre und begleitete sich zum Gesang

einiger Schubertli­eder.

Aber das Thema ihrer ersten Privatauss­tellung in diesem Herbst veranlasst­e die Maler, sich ein wenig entfernt auf einer Decke zu unterhalte­n und Pfeife zu rauchen. Claude lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm, und Frédéric streckte sich neben ihm aus.

,,Gestern habe ich Räume für unsere Ausstellun­g gefunden", berichtete Frédéric aufgeregt. ,,Bis dahin muss ich nun wie ein Verrückter malen. Den Sommer über kann ich Ankündigun­gen für die Zeitungen und Zeitschrif­ten entwerfen. Wir müssen alle Galeriebes­itzer und Kunsthändl­er einladen, vielleicht sogar Durand-Ruel, der inzwischen der wichtigste Kunsthändl­er in Paris ist."

,,Der wollte sich meine Arbeiten bisher nie ansehen", sagte Claude bedrückt. ,,Er hat mich durch seinen Gehilfen wissen lassen, dass er sie nicht verkaufen könnte. Sie wären zu modern." Fortsetzun­g folgt

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