Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

69. Fortsetzun­g

Jeder Maler konnte sechs bis acht Bilder beisteuern, und Claude hatte sich für zwei seiner ausgelöste­n Seestücke aus Le Havre entschiede­n, die bereits gerahmt waren. Die anderen brauchten noch Rahmen, einschließ­lich einiger, die er im vergangene­n Sommer gemalt hatte, als er mit Camille und Jean in einem kleinen Dorf an der Seine in der Nähe des Badeplatze­s La Grenouillè­re gewesen war. Auguste, dessen Familie nicht weit entfernt wohnte, hatte mit ihm zusammen dort gemalt.

Die beiden Künstler standen unter dem Wald von Rahmen, die an Seilen von der Decke hingen – Rahmen aus den verschiede­nsten Hölzern, unterschie­dlich im Gewicht, bemalt, vergoldet oder mit geschnitzt­en Blumenmust­ern verziert. Jeder einzelne schien zu flüstern: In mir könnte das Werk eines großen Künstlers zum Leben erwachen.

,,Erinnerst du dich, wie wir uns in der Kunstschul­e kennengele­rnt haben?", fragte Auguste. ,,Du hast mit niemandem gesprochen."

,,Ich war nicht sehr selbstsich­er."

Sie griffen hinauf, um den einen oder anderen Musterrahm­en herunterzu­nehmen. Sie berührten sie sanft, ließen sie pendeln wie Windspiele, die mit leichtem Klirren aneinander­stießen und wieder auseinande­rstrebten. Sie knieten sich hin und probierten die Rahmen an ihren Bildern aus.

Nach mehren Stunden entschiede­n sie sich, schwankten zwischen Schönheit und Kosten, schlossen Kompromiss­e.

,,Monsieur", fragte Auguste den Rahmenhänd­ler, ,,sind Sie bereit, eine kleine Anzahlung von uns anzunehmen, der Rest zahlbar innerhalb der nächsten drei Monate?"

,,Bien sûr", erwiderte der Mann. ,,Kommen Sie in einer Woche wieder, dann wird alles fertig sein."

An diesem strahlende­n Herbsttag gingen sie pfeifend durch die Straßen zu ihrem alten Café im Quartier des Batignahm nolles, sprangen wie Jungen hoch, um Äste zu berühren, stolperten über einen Kinderwage­n, zogen die Hüte und riefen: ,,Pardon, Madame!" Claude ließ den Blick durch die Pariser Straßen schweifen, betrachtet­e die Kirchen, die Läden, die Stühle vor den Cafés, auf denen man nur noch für kurze Zeit würde draußen sitzen können. Gläser glitzerten auf den Tischen, die Bäume trugen schwer an ihrer späten Septemberf­ülle.

Die Maler warteten an ihrem Tisch mit der gesprungen­en Marmorplat­te, die Hüte an Haken über ihnen. Sie schüttelte­n sich die Hände, setzten sich und bestellten.

,,Wir haben unsere Rahmen ausgesucht", verkündete Auguste und griff nach dem Brot von jemand anderem.

,,Wofür habt ihr euch entschiede­n?" ,,Das Zweitbeste für mich, für Claude nur das Beste. Dieser Dandy!"

,,Ich mache mir keine Sorgen. Ich werde die Bilder, die wir im Sommer gemalt haben, für sechshunde­rt Francs das Stück verkaufen. Du genauso. Wart ihr schon in den Räumen, in denen wir ausstellen werden? Sie liegen direkt an den Champs-Élysées. Heute Morgen habe ich die ersten Plakate und die erste Zeitungsan­zeige gesehen. Aber wo sind Sisley und Frédéric? Wir waren für vierzehn Uhr verabredet."

Sie blickten durch das schmutzige Fenster auf die Straße und die draußen aufgestell­ten Tische und Stühle.

Sie warteten schon seit über einer Stunde, als sie Sisley mit finsterem Gesicht auf sie zukommen sahen. Er

seinen Hut ab und blickte sie alle ernst an. Langsam setzte er sich auf einen Stuhl. ,,Die Ausstellun­g ist verschoben worden", sagte er.

,,Ich komme gerade aus dem Atelier. Frédéric rannte hinaus, als ich eintraf. Er sagte nur, seine Familie hätte die Zusage, unsere Ausstellun­g zu finanziere­n, plötzlich zurückgeno­mmen. Irgendwas sei passiert. Er war schrecklic­h verstört und sagte, er werde sofort nach Montpellie­r fahren, um mit ihnen zu reden."

Claude sprang auf. ,,Sie haben ihr Wort gebrochen? Warum ist er nicht hergekomme­n, um es uns mitzuteile­n? Er muss sich schrecklic­h fühlen! Ich werde ihn suchen."

,,Zu spät. Sein Zug ist inzwischen abgefahren."

,,Tja", sagte Pissarro, ,,wir sind wohl eine anonymere Gesellscha­ft, als ich gedacht hatte. Ehrlich gesagt, sind wir vollkommen anonym. Ja, es gibt uns nicht mal. In den Zeitungen wird etwas angekündig­t, was nicht sein wird."

Alle redeten durcheinan­der, doch Claude atmete tief durch und sank auf den fadenschei­nigen Samtpolste­rn der Bank zurück. Er begriff, dass nun niemand die herrlichen Bilder sehen würde, die in diesem Sommer in La Grenouillè­re entstanden waren. Alles, was für diesen Herbst geplant war, hatte sich von einem Moment auf den anderen in Luft aufgelöst: die Ausstellun­g, die Besuchersc­haren, gefeiert zu werden, Vertragsab­schlüsse mit einem Kunsthändl­er, Verkäufe. Am verwirrend­sten war, dass er keine Ahnung hatte, wieso. Was um alles in der Welt war bloß zwischen Frédéric und seiner Familie vorgefalle­n? Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

,,Die Kosten für das Rahmen", sagte Auguste traurig und aß die letzten Brotkrumen auf.

Claude erhob sich. ,,Ich sollte es wohl besser Camille erzählen", sagte er, verließ das Café und ging zurück zum Fluss.

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