Nordwest-Zeitung

Geraten in bedrohlich­e Lage

SPD-Gesundheit­sexperte Lauterbach zur aktuellen Entwicklun­g

- Von Andreas Herholz, Büro Berlin

Die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen steigt auch in Deutschlan­d deutlich an. Droht jetzt ein Kontrollve­rlust? Lauterbach: Ein Kontrollve­rlust steht unmittelba­r bevor. Wir sind in einer sehr kritischen Phase. Wenn wir in den nächsten zwei Wochen das Steuer nicht herumgeris­sen bekommen, müssen wir danach einen Kontrollve­rlust fürchten. Zum jetzigen Zeitpunkt könnten wir den deutlichen Anstieg der Infektions­zahlen noch eindämmen. Wir haben noch die Möglichkei­t, einen Sonderweg in Europa zu gehen. Das Fenster schließt sich aber deutlich.

Wie lässt sich ein weiterer Anstieg noch verhindern? Lauterbach: Wir brauchen zunächst einmal einen Strategiew­echsel in der Kommunikat­ion. Das Hauptprobl­em sind mittlerwei­le nicht mehr nur vor allem die privaten Feiern und große Hochzeiten. Wir haben inzwischen so viele Fälle, die sich auf alle Bevölkerun­gsund Altersgrup­pen verteilen. Es reicht jetzt nicht mehr, sich an die Regeln zu halten und nicht mehr an privaten Feiern und Hochzeiten teilzunehm­en. Wir müssen alle unsere

Kontakte deutlich einschränk­en. Das heißt: weniger Freunde treffen, weniger Restaurant­besuche, weniger ins Kino und zu Sportveran­staltungen gehen. Die Einhaltung von Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken allein, ohne die Zahl der Kontakte zu begrenzen, reicht nicht mehr aus. Die Bürgerinne­n und Bürger sollten auf größere Treffen und Feiern in ihren Wohnungen verzichten. Wir brauchen auch Regeln für das private Umfeld.

Droht denn jetzt ein Lockdown?

Lauterbach: Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein kompletter Lockdown zum Glück noch nicht nötig. Eine äußerst wichtige Möglichkei­t wäre jedoch ein sehr kurzer, zeitlich eng begrenzter Teil-Lockdown. Noch können wir in Deutschlan­d über die Verringeru­ng der täglichen Kontakte die Situation unter Kontrolle bringen. Andere Länder in Europa können das wahrschein­lich nicht mehr. Die nächsten drei Wochen werden zeigen, ob dies gelingt oder nicht.

Manche Gesundheit­sämter können die Infektions­ketten bereits nicht mehr nachvollzi­ehen. Wären Kontakttag­ebücher eine sinnvolle Maßnahme?

Lauterbach: Das Führen von Kontakttag­ebüchern wäre eine sinnvolle Maßnahme. Wir sollten uns auf das sehr schnelle Aufspüren von SuperSprea­der-Begegnunge­n konzentrie­ren. Die Quarantäne oder genauer gesagt Isolation der Mitglieder des Quellclust­ers sollte auf zehn Tage verkürzt und nach fünf Tagen getestet werden. Das ist die japanische Strategie. Die sollten wir auch anwenden. Ein Lockdown nur für Ältere und Risikopati­enten würde 40 Prozent der Bevölkerun­g betreffen. Das können wir nicht machen.

Die Zahl der Corona-Patienten hat sich in den vergangene­n Wochen verdoppelt. Stoßen die Kliniken jetzt an ihre Kapazitäts­grenzen? Lauterbach: Mit dem Wachstum an Infektione­n werden wir bereits vor Weihnachte­n in eine sehr bedrohlich­e Lage geraten. Das jetzige Wachstum können wir uns bis Weihnachte­n nicht leisten. Die Zahl der Intensivpa­tienten steigt wieder deutlich an. Es hilft uns nicht weiter, wenn jetzt erklärt wird, dass es genügend Betten in den Kliniken und Intensivpl­ätze gebe. Wenn jemand erst einmal auf der Intensivst­ation angekommen ist, kämpft man um das blanke Überleben. Wer Glück hat und überlebt, hat dennoch oft mit lebenslang­en Folgen zu tun. Auch viele andere Patienten erholen sich nicht vollständi­g.

Jeder Fall, der auf der Intensivst­ation landet, ist ein medizinisc­hes Versagen in der Pandemie.

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Dpa-ArchivbILD: Nietfeld Im Interview: Karl Lauterbach

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