Geraten in bedrohliche Lage
SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach zur aktuellen Entwicklung
Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt auch in Deutschland deutlich an. Droht jetzt ein Kontrollverlust? Lauterbach: Ein Kontrollverlust steht unmittelbar bevor. Wir sind in einer sehr kritischen Phase. Wenn wir in den nächsten zwei Wochen das Steuer nicht herumgerissen bekommen, müssen wir danach einen Kontrollverlust fürchten. Zum jetzigen Zeitpunkt könnten wir den deutlichen Anstieg der Infektionszahlen noch eindämmen. Wir haben noch die Möglichkeit, einen Sonderweg in Europa zu gehen. Das Fenster schließt sich aber deutlich.
Wie lässt sich ein weiterer Anstieg noch verhindern? Lauterbach: Wir brauchen zunächst einmal einen Strategiewechsel in der Kommunikation. Das Hauptproblem sind mittlerweile nicht mehr nur vor allem die privaten Feiern und große Hochzeiten. Wir haben inzwischen so viele Fälle, die sich auf alle Bevölkerungsund Altersgruppen verteilen. Es reicht jetzt nicht mehr, sich an die Regeln zu halten und nicht mehr an privaten Feiern und Hochzeiten teilzunehmen. Wir müssen alle unsere
Kontakte deutlich einschränken. Das heißt: weniger Freunde treffen, weniger Restaurantbesuche, weniger ins Kino und zu Sportveranstaltungen gehen. Die Einhaltung von Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken allein, ohne die Zahl der Kontakte zu begrenzen, reicht nicht mehr aus. Die Bürgerinnen und Bürger sollten auf größere Treffen und Feiern in ihren Wohnungen verzichten. Wir brauchen auch Regeln für das private Umfeld.
Droht denn jetzt ein Lockdown?
Lauterbach: Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein kompletter Lockdown zum Glück noch nicht nötig. Eine äußerst wichtige Möglichkeit wäre jedoch ein sehr kurzer, zeitlich eng begrenzter Teil-Lockdown. Noch können wir in Deutschland über die Verringerung der täglichen Kontakte die Situation unter Kontrolle bringen. Andere Länder in Europa können das wahrscheinlich nicht mehr. Die nächsten drei Wochen werden zeigen, ob dies gelingt oder nicht.
Manche Gesundheitsämter können die Infektionsketten bereits nicht mehr nachvollziehen. Wären Kontakttagebücher eine sinnvolle Maßnahme?
Lauterbach: Das Führen von Kontakttagebüchern wäre eine sinnvolle Maßnahme. Wir sollten uns auf das sehr schnelle Aufspüren von SuperSpreader-Begegnungen konzentrieren. Die Quarantäne oder genauer gesagt Isolation der Mitglieder des Quellclusters sollte auf zehn Tage verkürzt und nach fünf Tagen getestet werden. Das ist die japanische Strategie. Die sollten wir auch anwenden. Ein Lockdown nur für Ältere und Risikopatienten würde 40 Prozent der Bevölkerung betreffen. Das können wir nicht machen.
Die Zahl der Corona-Patienten hat sich in den vergangenen Wochen verdoppelt. Stoßen die Kliniken jetzt an ihre Kapazitätsgrenzen? Lauterbach: Mit dem Wachstum an Infektionen werden wir bereits vor Weihnachten in eine sehr bedrohliche Lage geraten. Das jetzige Wachstum können wir uns bis Weihnachten nicht leisten. Die Zahl der Intensivpatienten steigt wieder deutlich an. Es hilft uns nicht weiter, wenn jetzt erklärt wird, dass es genügend Betten in den Kliniken und Intensivplätze gebe. Wenn jemand erst einmal auf der Intensivstation angekommen ist, kämpft man um das blanke Überleben. Wer Glück hat und überlebt, hat dennoch oft mit lebenslangen Folgen zu tun. Auch viele andere Patienten erholen sich nicht vollständig.
Jeder Fall, der auf der Intensivstation landet, ist ein medizinisches Versagen in der Pandemie.