Nordwest-Zeitung

Mit dem Abrissbagg­er gegen einen Walzer

Weltklasse-Pianistin Anna Vinnitskay­a begeistert in Wilhelmsha­ven mit Schumann und Ravel

- Von Horst Hollmann

Wilhelmsha­ven – Welt- und gesellscha­ftsfremd ist diese Methode nicht: Da baut jemand etwas kunstvoll auf – und reißt es anschließe­nd lustvoll ein. Soll vorkommen, nicht einmal selten.

Die Pianistin Anna Vinnitskay­a (37) demonstrie­rt das bei ihrem Auftritt in der Wilhelmsha­vener Stadthalle beim traditione­llen Solistenko­nzert im Rahmen der Sinfonieko­nzert-Reihe. Die Russin ist fast holterdipo­lter für den erkrankten Alexander Lonquich eingesprun­gen. Der wiederum war eigentlich als Ersatz für das verhindert­e Prager Kammerorch­ester vorgesehen gewesen. Es ist die Wendung, die nach erstem Durchatmen 420 zugelassen­e Hörer begeistert. den Solofassun­g von „La Valse“anstelle der üblichen für zwei Klaviere.

Da mag an Deutlichke­it der Strukturen ein bisschen auf der Strecke bleiben. Aber wie sie den ausgedient­en Walzer zum Untergang einer Epoche zerfetzt, wie sie ins Inferno überkippt, das bestürzt und fasziniert zugleich.

Langer Atem

In Robert Schumanns erster Sonate fis-Moll op. 11 erweist sich die Pianistin als Gestalteri­n von höchstem Rang. Sie meißelt die Gegensätze, hinter denen sich das gespaltene Ich des Komponiste­n verbirgt, plastisch heraus, ohne je zu überspiele­n.

Für die langen Strecken voller Ereignisse besitzt sie einen langen Atem und den Blick in enorme Weiten. Damit führt sie auch das sich dehnende Finale ohne Leerlauf spannungsr­eich zum Ziel.

Zwei Zugaben

Selbst die manchmal etwas widerstand­slos perlenden Läufe im Legato wirken nie glatt. Außerdem an diesem Abend: Schumanns Arabeske C-Dur, Chopins Fantasie-Impromptu cis-Moll und zwei Zugaben.

In alle Begeisteru­ng mischt sich ein Hauch Wehmut. Lonquich hätte in seinem Programm Beethovens Diabelli-Variatione­n und Schuberts Sonate B-Dur D 960 geführt – zwei der größten Werke der Musik an einem Abend. Das lässt sich nicht ersetzen.

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