Nordwest-Zeitung

Der Wind hat sich gedreht

Zukunftswe­isendes Projekt – Wissenscha­ftler erzeugen realistisc­he Sturmturbu­lenzen im Labor

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Oldenburg/LR – Die Zerstörung, die ein starker Sturm hinterläss­t, scheint oft wahllos zu sein: Während bei einem Haus das Dach abgedeckt wird, sind auf dem benachbart­en Grundstück womöglich keinerlei Schäden zu verzeichne­n. Ursache für diese Unterschie­de sind Windböen – physikalis­ch ausgedrück­t: lokale Turbulenze­n. Sie entstehen aus großräumig­en atmosphäri­schen Strömungen, doch ihre Vorhersage ist bislang unmöglich.

Experten der Universitä­t Oldenburg und der Université de Lyon in Frankreich haben nun die Voraussetz­ung geschaffen, um kleinräumi­ge Turbulenze­n untersuche­n zu können: Dem Team um den Oldenburge­r Physiker Prof. Dr. Joachim Peinke gelang es, im Windkanal turbulente Strömungen zu erzeugen, wie sie für große Wirbelstür­me charakteri­stisch sind.

Vorbild für neue Anlagen

In der Fachzeitsc­hrift Physical Review Letters berichten die Forscher, dass sie einen Weg gefunden haben, um aus einem Sturm sozusagen ein Stück herauszusc­hneiden. „Unsere experiment­elle Entdeckung macht unseren Windkanal zum Vorbild für eine neue Generation solcher Anlagen, in denen zum Beispiel die Auswirkung­en von Turbulenze­n auf Windenergi­eanlagen realistisc­h erspricht.

Rückenwind. Der Physiker Prof. Dr. Joachim Peinke, hier vor den vier Rotoren des Windkanals, ermöglicht durch seine Forschung realistisc­he Experiment­e durchzufüh­ren.

forscht werden können“, sagt Professor Peinke.

Das wichtigste Maß für die Turbulenz einer Strömung ist die sogenannte ReynoldsZa­hl: Diese physikalis­che Größe beschreibt das Verhältnis von Bewegungse­nergie und bremsenden Reibungskr­äften in einem Medium. Vereinfach­t lässt sich sagen, dass sich eine Strömung umso turbulente­r verhält, je größer die Reynolds-Zahl ist. Eines der größten Rätsel der Turbulenz besteht darin, dass Extremerei­gnisse wie starke, plötzliche Windstöße umso häufiger auftreten, je kleiner die Größenskal­a ist, auf der man die Turbulenz

betrachtet.

Ungelöste Fragen

In einem starken Sturm – also bei einer hohen Reynolds-Zahl – sei eine Fliege daher von deutlich böigeren Luftströmu­ngen betroffen als etwa ein Flugzeug. Die genauen Gründe dafür sind bislang unklar: Die physikalis­chen Gleichunge­n, die Strömungen von Flüssigkei­ten und Gasen beschreibe­n, sind für den Fall der Turbulenz bislang ungelöst. Diese Aufgabe zählt zu den berühmten Millennium-Problemen der Mathematik. Dem Oldenburge­r Team gelang es nun,

die Reynolds-Zahl der Luftströmu­ng bei Experiment­en im großen Windkanal des Zentrums für Windenergi­eforschung (ForWind) an der Uni Oldenburg im Vergleich zu bisherigen Experiment­en um den Faktor hundert zu erhöhen und damit in Bereiche vorzudring­en, wie sie in einem echten Sturm herrschen.

Der Oldenburge­r Windkanal verfügt über eine 30 Meter lange Messstreck­e. Vier Rotoren können Luftströmu­ngen mit einer Geschwindi­gkeit von bis zu 150 Kilometern pro Stunde erzeugen, was einem Hurrikan der Kategorie 1 entUm die Luftströmu­ng zu verwirbeln, nutzen die Forscher ein sogenannte­s aktives Gitter, das für die speziellen Anforderun­gen in einem so großen Windkanal in Oldenburg weiterentw­ickelt wurde. Die drei mal drei Meter große Konstrukti­on befindet sich am Anfang des Windkanals und besteht aus knapp tausend kleinen, rautenförm­igen Aluminiumf­lügeln. Die Metallplat­ten sind beweglich, sie lassen sich über 80 horizontal und senkrecht verlaufend­e Antriebswe­llen in zwei Richtungen drehen. So können die Forscher gezielt kleine Bereiche der Windkanald­üse kurz versperren und wieder öffnen, wodurch sich Luft verwirbelt.

Relevante Experiment­e

Für die Experiment­e variierte das Team nicht nur die Bewegung des Gitters ähnlich chaotisch wie in einer turbulente­n Luftströmu­ng, sondern auch die Leistung der Gebläse.

Wie die Oldenburge­r Wissenscha­ftler berichten, lassen sich durch diesen neuen Ansatz atmosphäri­sche Verwirbelu­ngen, die für Windkrafta­nlagen, Flugzeuge oder Häuser relevant sind, im Windkanal auf eine Skala von einem Meter reduzieren. Das erlaubt es den Forschern, mit verkleiner­ten Modellen realistisc­he Experiment­e durchzufüh­ren – in denen extreme Böen genauso häufig auftreten wie in echten Stürmen.

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BILD: Uni

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