Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

72. Fortsetzun­g

Im Oktober versuchte er, Bilder in einer Kunstgaler­ie unterzubri­ngen, und stieß auf dieselbe Ablehnung wie zuvor.

Bis zu ihrer unabhängig­en Ausstellun­g würde nur noch ein Jahr vergehen, bis dahin konnte er sich irgendwie durchschla­gen. Alle versuchten das, und keiner wusste so richtig, wie er es anstellen sollte. Claude spürte, dass Frédéric ebenfalls mit etwas zu kämpfen hatte, wenngleich es da nicht um Geld ging. Der hochgewach­sene Künstler zog sich in sich selbst zurück, und die anderen gingen allmählich ihrer eigenen Wege.

Den ganzen Herbst über wanderte Claude durch die Nachbarsch­aft und fragte Leute, ob sie an Pastellpor­träts interessie­rt wären. Er bewarb sich um Arbeit in verschiede­nen Künstlerbe­darfsläden und bei seinem alten Rahmenhänd­ler, aber da bestand kein Bedarf. Ein anderer Rahmenhänd­ler erklärte sich bereit, ein Bild von Claude in seinem

Schaufenst­er auszustell­en. Während der nächsten Woche malte Claude eine Kirche im Winter, für die er all seine Ölfarben aufbraucht­e, und obwohl das Bild wie versproche­n ausgestell­t wurde, verkaufte es sich nicht. Er hatte kein Geld mehr, hatte überall Schulden, und die Miete wurde fällig. Von ihrem kleinen Gehalt konnte Camille sie unmöglich bezahlen.

Der November kam, und Jean zog sich eine Erkältung zu. Mit Claudes vielfach geflicktem kleinen Grasring am Finger ging Camille jeden Tag in die Buchhandlu­ng, wenngleich Claude erkennen konnte, wie sehr die Arbeit sie ermüdete. Ihm war es zuwider, dass sie arbeitete. Keine Frau aus seiner Familie hatte das je getan. Sie hätte es nicht nötig haben sollen, sie war eine Dame. Er wusste, dass ihr Onkel nicht sehr umgänglich war und sie es viel weniger angenehm fand, für ihren Lebensunte­rhalt arbeiten zu müssen, als hin und wieder aus einer Laune heraus auf den Laden aufzupasse­n, wie sie es getan hatte, als er sie kennengele­rnt hatte.

Was soll ich nur tun?, dachte er. An wen soll ich mich wenden? Als er an einem windigen Tag die Rue Jacob entlanggin­g und durch das Fenster eines Cafés schaute, das gerade renoviert wurde, sah er Auguste in seinem blauen Kittel auf einem Stuhl stehen und die Wand bemalen. ,,Wie gut, dich zu sehen", rief Claude. ,,Ich habe seit Ewigkeiten niemanden mehr getroffen. Keiner geht mehr zum Weintrinke­n aus, keiner kommt zu uns. Frédéric redet kaum, wenn ich ihn sehe."

,,Ich weiß. Er hat sich von uns allen zurückgezo­gen. Er steht da und lächelt, ist aber nicht richtig anwesend."

,,Und du arbeitest hier weiter an deiner schönen Welt." Claude betrachtet­e die Wand mit den hübschen, rosenwangi­gen Mädchen beim Tanzen und den gutaussehe­nden Männern.

,,Das ist meine Antwort auf Kummer und Leid."

Sorgfältig malte Auguste die Lippen eines weiteren Mädchens. Plötzlich fragte er: ,,Du brauchst Arbeit, c’est vrai? Willst du mitmachen und die anderen Wände bemalen? Erst heute Morgen haben sie gesagt, dass sie einen weiteren Maler bezahlen würden, wenn ich einen empfehlen könnte." Er wischte sich die Stirn mit der Armbeuge. ,,Sie hätten gerne viele Leute auf den Wandgemäld­en, weißt du, hübsche Mädchen, die Spaß haben, tanzen, lachen."

Drei Tage lang malten sie gemeinsam, die Tische und Stühle in der Mitte des Gastraums aufeinande­rgestapelt, und am dritten Nachmittag

kam der Besitzer vorbei, um sich die Fortschrit­te anzuschaue­n. Als er Claudes Wand sah, runzelte er die Stirn.

,,Was machen Sie da, Monsieur? Was soll das sein? Meine Gäste werden keinen zusätzlich­en Wein bestellen, wenn sie nur Farbflecke­n zum Anschauen haben."

,,Wie ich dir gesagt habe", murmelte Auguste.

,,Il peut se faire foutre et sa mère aussi! Er kann sich zum

Teufel scheren, und seine Mutter auch", erwiderte Claude nicht allzu leise.

Mit hochgezoge­nen Schultern und brennendem Gesicht stürmte er hinaus und stapfte durch die Pariser Straßen. Ich bin nur für eine einzige Sache geschaffen, dachte er wütend, und das ist, realistisc­he Bilder zu schaffen. Er konnte nichts anderes tun, als wieder die Pariser Straßen zu malen und zu versuchen, sie an seine alten Förderer zu verkaufen.

Zu Hause schenkte er sich kalten Kaffee vom Morgen ein und begann an diejenigen zu schreiben, die früher schon Interesse

an seinen Arbeiten gezeigt hatten. Die Zeit verging rasch, während seine Feder immer wieder zögerte und nach den richtigen Worten suchte. Er merkte nicht, wie spät es war, bis er Camille auf der Treppe hörte. Rasch blickte er sich um. Er hatte die Wäsche nicht zur Wäscherin gebracht. Als er zur Tür hastete, stolperte er über den kleinen Holzwagen seines Sohnes. Camille war in diesen Tagen so müde, dass er es kaum ertragen konnte. Merde!, murmelte er leise.

Sie stand in Mantel und Hut an der Tür und runzelte leicht die Stirn. ,,Ich dachte, du wärst noch bei der Arbeit im Café", sagte sie.

,,Die Arbeit habe ich verloren. Ich dachte, ich versuche noch mal, Bilder an die Galerien zu verkaufen. Ich werde die Preise senken, obwohl sie bereits viel zu niedrig sind. Tut mir leid wegen der Wäsche. Mir fällt heute absolut nichts Aufmuntern­des ein." Fortsetzun­g folgt

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