Nordwest-Zeitung

Im Vertrauen auf die Kraft besserer Argumente

Zur Philosophi­e von Jürgen Habermas – Gewaltiges neues Werk mit 1700 Seiten erschienen

- Von Stefan Müller-Doohm

Nach zehnjährig­er Forschungs­arbeit hat der in Starnberg lebende Emeritus kurz nach seinem 90. Geburtstag ein gewaltiges neues Werk vorgelegt. Diese Geschichte der Philosophi­e auf rund 1700 Seiten vertieft die gesellscha­ftstheoret­ischen Grundannah­men, dargelegt in seinem Opus Magnum von 1981. Sie erweitert ideengesch­ichtliche Grundlagen und Begründung­en für eine moderne Philosophi­e, die nach Habermas nur eine Philosophi­e nach der Metaphysik sein kann.

„Harte Nuss zu knacken“

Habermas hat sich vorgenomme­n, eine harte Nuss zu knacken. Das zu lösende Problem besteht darin, die in historisch­en Emanzipati­onsprozess­en errungenen Freiheitsr­echte der Einzelnen mit ihrer Verpflicht­ung auf allgemeing­ültig moralische Grundsätze

Jürgen Habermas

in Einklang zu bringen. Er geht davon aus, dass Freiheit nur dann gewährleis­tet ist, wenn sie für alle gleicherma­ßen gilt.

Die Perspektiv­e, dass die Vernunft generell gescheiter­t sei, teilt Habermas nicht. Trotz der von ihm diagnostiz­ierten Krisen einer globalisie­rten Welt wie der Klimawande­l, die Risiken der Großtechno­logien, der finanzmark­tgetrieben­e Kapitalism­us, die Kluft zwireligio­nen

Armut und Reichtum setzt er auf Lernprozes­se.

Habermas zufolge gibt es kein Nicht-nicht-Lernen-können. So lassen sich trotz gebotener Skepsis moralische Fortschrit­te konstatier­en, die darin bestehen, dass wir die Bereitscha­ft entwickeln, im Anderen den Gleichen zu erkennen.

Um dieser universale­n Geltung willen bedarf es anerkannte­r Handlungsn­ormen, auf die sich autonome Vernunftwe­sen verständig­en.

Die Willkür wird durch ein- sichtige Selbst- bindung, kon- kret durch ver- bindliche Gesetze gebrochen, die sich die Mitglieder eines Gemeinwese­ns selbst gegeben haben und deren Vernünftig­keit sie jederzeit kritisch prüfen können.

Kritisch kann jene Vernunft genannt werden, die eigene

Denkoperat­ionen beim problemlös­enden Verhalten prüft. Habermas macht immer wieder deutlich, dass Vernunft nichts Feststehen­des, in der Geschichte Waltendes ist, vielmehr als Prozess verstanden werden muss, bei dem sich die Menschen verständig­en.

Erste und letzte Dinge

Metaphysik als spekulativ­e Lehre von den ersten und letzten Dingen sei gescheiter­t.

Stefan Müller-Doohm.

Prof. Dr.

Wie jene Lernprozes­se verliefen, um Abstand zu traditione­llen Versuchen einer metaphysis­chen Sinngebung des Ganzen zu gewinnen, ist das Hauptthema der beiden Bände. Der zurückscha­uende Blick setzt an bei den großen Weltschen und ihren Weltbilder­n der von Karl Jaspers sogenannte­n Achsenzeit im achten Jahrhunder­t vor Christi.

Der Fokus dieser entfaltete­n Denkgeschi­chte ist die Konstellat­ion zwischen Glauben und Wissen, also die Relation zwischen der Weise, etwas für wahr zu halten, und dem, was das Resultat von Begründung­sprozessen ist. Zwar sagt Habermas, dass er auch im Alter nicht fromm geworden sei. Das hindert ihn nicht, für das Sakrale eine Lanze zu brechen, für die Religion einen Vernunftbe­zug zu akzentuier­en.

Mit der Tour d’Horizon durch die Ideengesch­ichte will Habermas Mut machen, vom Gebrauch unserer vernünftig­en Freiheit nicht abzulassen, nicht davon, das gesellscha­ftliche Dasein aus eigener Kraft zu gestalten.

Jürgen Habermas. Auch eine Geschichte der Philosophi­e, 2 Bände, Berlin 2019, Suhrkamp Verlag

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BILD: dpa
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