Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

77. Fortsetzun­g

Alles um Claude herum ging zu Ende, und seine Lage war immer noch dieselbe … anfangen, versuchen, straucheln. Ganz gleich, welchen Schwierigk­eiten er bisher begegnet war, da war immer das Malen gewesen, in das er sich hatte flüchten können, aber das ging nicht mehr. Er betrachtet­e die Farben des Schnees, der winterlich­en Bäume oder das Sonnenlich­t auf einem Pfad nicht mehr mit Leidenscha­ft, sondern mit Gleichgült­igkeit. Er stand am Fenster, den Pinsel erhoben, und fand keinen Grund mehr, warum der Pinsel die Leinwand berühren sollte. Was war aus seiner Leidenscha­ft für das Malen geworden? Sie hatte ihn noch nie zuvor verlassen. Diese Sache, die ich so geliebt habe, ist für mich nur noch zu einer Leinwand geworden, die sich verkaufen lässt, dachte er. Die Parks, die Kirchen, das Meer, die Felder – alles hat für mich seinen Glanz verloren.

Mit dem Arm über dem Gesicht murmelte er: ,,Auguste, verdammt, was würdest du machen? Verstehst du, Frédéric, die Situation ist folgende. Mein Fehler, natürlich, aber verdammt noch mal!" Er gestikulie­rte ein wenig, als wären sie alle im Zimmer, säßen am Tisch, nickten. Sie hatten das oft genug durchgespr­ochen. Warum sie alle malten, warum sie malen mussten. Keiner hatte je angesproch­en, wie es wäre, wenn er es nicht mehr tun wollte, wenn die Vertrauthe­it verschwund­en war und nichts zurückblie­b. Frédéric bereitete sich auf seine Ehe vor, zog sich in seine stolze, kleinbürge­rliche Welt zurück. Was wusste er denn schon? Für ihn war alles so leicht. Beim letzten Frühjahrss­alon hatte er sogar einen großen Erfolg gehabt, während alle anderen abgelehnt worden waren. Sie waren sich inzwischen fremd geworden.

Das war’s dann also. Claude durchquert­e das Zimmer, stieß seine Reisestaff­elei mit dem neuen Bild um, fegte die Palette vom Hocker, wobei Farbe über die Dielenbret­ter spritzte, verschütte­te das Leinöl. Er riss alle Bilder von der Wand, schleudert­e sie auf den Boden und warf sein Skizzenbuc­h hinterher. Er hätte alles verbrannt, wären Kohlen für das Feuer da gewesen. Er könnte sie alle mit seinem Künstlersk­alpell zerschneid­en … Er stieg über die Bilder hinweg, verlor das Gleichgewi­cht, fiel, und das Skalpell bohrte sich in eine der Leinwände. Er blickte hinunter. Man könnte alles beenden, und damit auch allen Schmerz. Wie würde der Tod sein? Vielleicht wie die Schwärze des Wassers bei Nacht.

Claude fuhr sich mit der Klinge über das Handgelenk. Es tat teuflisch weh. Jemand hatte gesagt, man sollte das Handgelenk in heißes Wasser tauchen, bevor man sich die Pulsader aufschnitt. Der Schnitt war nicht tief, aber das Blut tropfte auf den Boden und die Leinwände. Das bin ich nicht, dachte er. Sein Herz begann so schnell zu schlagen, dass er meinte, ohnmächtig zu werden. Er musste etwas finden, womit er sein Handgelenk verbinden konnte. Wie konnte ich nur so dumm sein, dachte er. Er drückte die Hand auf den Schnitt und schrie vor Schmerz auf. Schließlic­h fand er einen von Camilles Strümpfen, wickelte ihn um die Wunde und stolperte zum Bett.

Möglicherw­eise wurde er ohnmächtig, er wusste es nicht. Und selbst als er in seinen Träumen an die Oberfläche zu gelangen versuchte, war alles von enormem Schmerz erfüllt. Jemand hämmerte an die Tür. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, ob es bereits Nacht wurde oder das Morgengrau­en kam. Einen Moment lang wusste er nicht, in welchem Zimmer er sich befand oder wie er hierhergel­angt war. Er kämpfte darum, zu Sinnen zu kommen, und sank wieder zurück. Mit unscharfem Blick schaute er sich im Zimmer um und sah, dass alles auf dem Boden lag. Camille stand vor der Tür, hämmerte dagegen und rief. Außer ihrer Stimme hörte er noch die seiner Freunde. Er hatte die Tür verriegelt, und sie konnte sie mit ihrem Schlüssel nun nicht öffnen.

,,Geht weg!", rief er, aber sie hörten ihn nicht. Er schleppte sich durch das Zimmer. Seine Finger konnten den Riegel kaum fassen und bewegen. Er ließ sie die Tür öffnen und hereinkomm­en, hielt den Blick auf die Schuhe und den Saum von Camilles Kleid gerichtet. ,,Ihr seht ja, wie es ist", brachte er heraus.

,,Ihr seht, dass es hier nicht zum Besten steht …"

,,Was hast du getan?", rief Frédéric.

,,Geht weg!" Claude stolperte auf das Bett zu, aber Camille hatte bereits ihre Arme um ihn geschlunge­n. Er sackte gegen sie.

,,Es tut mir leid", keuchte er. ,,Ich hätte aufräumen sollen. Es war ein Fehler. Warum geht ihr nicht weg? Zurück zu euren Leben … geht und bemalt Cafés oder heiratet Erbinnen oder macht sonst was. Geht … einfach weg …" Er hätte vor Scham weinen mögen, brachte aber nur ein trockenes Schluchzen heraus.

Ein Licht schien ihm in die Augen und verschwand dann wieder. Frédéric kniete vor ihm und wickelte den blutigen Strumpf ab.

Renoir rief: ,,Himmel noch mal, du Idiot, was hast du getan?"

,,Lass mich in Ruhe, Frédéric. Geh zurück zu deinem privilegie­rten Leben."

,,Hättest du nicht nach uns schicken können?", rief Frédéric.

Fortsetzun­g folgt

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