Eingesperrt – Stimmen aus dem Kopfgefängnis
Schola Heidelberg und „ensemble aisthesis“im Theater Wrede – Vorerst letzte Veranstaltung
Oldenburg – Eingesperrt: Passender hätten Titel und der Termin – kurz vor dem erneuten Lockdown – nicht sein können. Auf Einladung von „oh ton – Förderung aktueller Musik“führten die Schola Heidelberg und das „ensemble aisthesis“unter Leitung ihres Dirigenten Walter Nußbaum im Theater Wrede drei speziell für die Thematik dieses Konzertes komponierte Werke auf.
■ Der Hintergrund
Angestoßen wurde das Ganze durch das Schicksal des paranoid schizophrenen gesellschaftlichen Außenseiters Julius Klingebiel (1904-1965), der ab 1939 in mehrere Ner
eingewiesen und nach dem NS-Erbgesundheitsgesetz zwangssterilisiert wurde. Zuletzt war er als unheilbar im Verwahrungshaus Göttingen untergebracht. Hier bemalte er ab 1951 die Wände seiner neun Quadratmeter großen Zelle mit Landschaften, Menschen, Tieren und Symbolen und schuf sich so seine eigene Welt als Versuch persönlicher Befreiung.
■ Die Zelle
Das Hauptwerk, die Komposition „Die Zelle“des österreichischen Komponisten Clemens Gadenstetten (1966), nahm sich dieses Schicksals von Julius Klingebiel an. Fünf Sängerinnen, fünf Sänger und neun Instrumentalisten schufen unter Leitung von Walter Nußbaum eine teils verstörende, teils einsame und verzweifelte Welt aus Tönen. Beachtenswert die Aufgabe und Leistung der Sänger des Chores, die rhythmisch sprechend bis sängerisch illustrierend die Geschichte vortrugen und sich auch noch perkussiv dazu einbrachten.
Die sehr leisen, einsamen Momente gingen genauso unter die Haut, wie die mit den Instrumenten dicht verwobenen Ausbrüche. Ein Werk von höchster Konzentration, das ein höchst konzentriertes Ensemble zur Umsetzung und die musikalische Disziplin eines jeden Musikers fand. Komponist Clemens Gadenstätten ist es gelungen, Angst, Leiden, Irritation und Vervenkliniken zweiflung überzeugend in Musik zu verpacken und eine Musik zu schaffen, der man sich kaum entziehen konnte. Ihm und dem Ensemble ist es gelungen, den Zuhörer an diesem Abend ein kleines Stück in die einsame Welt des Julius Klingebiel mitzunehmen.
■ Persönliche Freiheit
Zu Beginn des Konzertes stand „Saving Faces“, ein Werk der Taiwanesischen Komponistin Yu-Hui Chang (1970) für sechs Stimmen und sechs Instrumente, auf dem Programm – eine Reaktion auf die jüngste Entwicklung der Gesichtserkennungstechnologie – auf den abgescannten Menschen. Eine Musik der Stille mit filigranen, zerbrechlichen und einsamen Klängen, die immer wieder von verzweifelten instrumentalen Soloausbrüchen zerrissen wurden, um dann wieder in sich zusammenzufallen. Der teils rhythmisierte, teils entrückte Gesang der hochmotivierten Vokalisten und die hervorragenden Instrumentalisten schafften hier eine ganz eigene Welt des leeren Ausgeliefertseins.
■ Auf Distanz
Ganz anders die Komposition „Babel“des Komponisten Ye Shen (1977) aus dem Theaterstück „Raum/Distanz“für sechs Stimmen und vier Instrumente. Eine Komposition, die sehr auf Text angelegt war – mit untermalenden Instrumenten.