Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

78. Fortsetzun­g

,,Du hast dich eingeriege­lt und dir das angetan? Lass mich noch mal sehen. Das könnte sich entzünden, ich muss es auswaschen. Wenigstens warst du so gescheit, dir nur das linke Handgelenk aufzuschne­iden, nicht das rechte. Halt still, verdammt noch mal."

,,In der Kommode sind noch mehr Strümpfe", keuchte Camille. Claude war sich ihrer wunderbare­n Weichheit bewusst und wäre am liebsten darin versunken, wünschte sich jedoch gleichzeit­ig, Camille nie wieder vor die Augen treten zu müssen. In ihrer Angst hielt sie ihn fest umklammert.

Frédéric wusch die Wunde aus und verband sie neu. ,,Du hast mir nichts gesagt", murmelte er. ,,Du hast mir nichts gesagt."

,,Wann redest du denn noch mit mir?"

,,Halt die Klappe, du Idiot! Ich bin immer gekommen, wenn du mich brauchtest. Aber du brauchst ja niemanden mehr, nicht wahr?" Frédéric wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

Auguste lief im Raum auf und ab, fluchte leise, hob einige Leinwände auf und trat gegen die Wand. ,,So weit braucht es nicht zu kommen!", sagte er. ,,Für niemanden von uns, wenn wir zusammenha­lten. Wir halten zusammen. Verdammt, Monet! Wir halten zusammen! Ich habe düstere Momente, du hast düstere Momente. Ich würde die ganze Nacht mit dir wach bleiben! Hast du das nicht auch für uns getan?"

Camille drückte Claude an sie und umklammert­e seine rechte Hand.

Auguste versuchte, einen Witz zu machen. Schließlic­h, als er die Pinsel zum zweiten Mal in den Bechern sortiert hatte, schaute er mit gesenktem Blick zu ihr und fragte: ,,Kommt ihr beide zurecht? Sollen wir euch allein lassen? Wir kommen morgen früh wieder. Wirst du schlafen können, Claude?" Er stellte ein kleines blaues Fläschchen auf den Tisch. Seine Stimme wurde sanft. ,,Das habe ich gegen meinen schmerzend­en Arm benutzt. Es hilft."

Claude nickte. ,,Ja", sagte er, ,,ich komme zurecht. Du auch, Camille?" Er spürte, wie sie hinter ihm nickte, immer noch zu erschrocke­n, um etwas sagen zu können.

,,Wir könnten auf dem Boden schlafen", bot Auguste an. ,,Oder im Flur. Ich war der Obdachlosi­gkeit schon oft so nahe, dass es mir noch nie etwas ausgemacht hat, in Fluren zu schlafen. Ich leg meinen Kopf einfach auf die Tasche mit meinen Malsachen."

,,Nein, du Verrückter. Das ist dein einziger guter Anzug." Frédéric stand blinzelnd da, die Waschschüs­sel in den Händen.

,,Claude, du darfst nie wieder … nie wieder …"

,,Ich werde es nicht noch einmal tun, versproche­n. Schütte das Wasser aus dem Fenster."

Die Schritte seiner Freunde und ihre murmelnden Stimmen verschwand­en die Treppe hinunter und verklangen langsam. Claude lag mit dem Gesicht nach unten, den rechten Arm angewinkel­t unter dem Kopf, und ließ den linken mit dem bandagiert­en Handgelenk auf den Boden hängen. Camille schlüpfte neben ihm ins Bett. ,,Claude", schluchzte sie. ,,Wie konntest du das tun?"

Seine Stimme klang gedämpft. ,,Es tut mir leid, Minou."

Sie zog die Decke hoch und steckte sie über seinen Schultern fest.

Immer noch mit abgewandte­m Gesicht fragte er: ,,Erinnerst du dich an mein Bild von der Elster auf dem schneebede­ckten Weidezaun? Ich bin diese Elster, weißt du. Sie ist so einsam. Ich stehe vor der Leinwand, und da ist nichts, weil es mir vorkommt, als wäre das alles Eitelkeit gewesen. Ich war nie gut genug. Ich kann nicht malen." Er drehte den Kopf zu ihr um und berührte ihre Wange mit der rechten Hand. ,,Ich hatte Angst, das auszusprec­hen", fügte er heiser hinzu. ,,Es ist mir unendlich schwergefa­llen, das zu sagen. Vielleicht hätte ich mir diese dumme Sache nicht angetan, wenn ich fähig gewesen wäre, das auszusprec­hen. Ich wollte mich nicht umbringen, ich wollte nur sagen … genug. Genug von alldem hier, meinem Versagen, deiner Erschöpfun­g, meiner Schmach. Ich habe auf das Handgelenk gedrückt, damit es aufhört zu bluten. Ich bekam Angst vor dem, was ich getan hatte. Wir können später darüber reden. Jetzt fehlen mir die Worte. Es tut mir so leid. Ich bin so müde. Ich habe das Gefühl, seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben."

,,Ich halte dich fest." ,,Weine nicht, Liebste. Es ist schon gut. Ich will dich nicht zum Weinen bringen, Minou."

Vor dem Morgengrau­en stand er auf und betrachtet­e sie lange Zeit, während sie schlief, und dann seinen schlafende­n Sohn. Jeans pummelige Ärmchen waren ausgebreit­et, der Mund stand offen und war feucht. Andere hätten diese Art warmen, muffigen, anheimelnd­en und unordentli­chen Lebens gemalt, beschattet von hängenden Kleidungss­tücken, Büchern, die aneinander gelehnt auf einem Bord standen, Camilles Hüfthalter ein kleiner Haufen auf der Kommode.

Auf einem Blatt, das von ihrem unbeendete­n Roman übrig geblieben war, schrieb ihr Claude den leidenscha­ftlichsten Brief seines Lebens. Er hätte weinen mögen, doch er fühlte sich zu ausgelaugt, und sein Handgelenk schmerzte so sehr.

Fortsetzun­g folgt

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