Abrisse als Sünden
ensationsfund in Oldenburger Innenstadt“titelte kürzlich die Nordwest-Zeitung auf der ersten Seite. Die Schlagzeile übertreibt mit keiner Silbe. Der Fund von Fragmenten eines eisenzeitlichen Gefäßes im rückwärtigen Bereich von Grundstücken an der Kurwickstraße ist ein archäologischer Paukenschlag erster Güte. Dafür, dass der Geestrücken über der Hunte in prähistorischer Zeit besiedelt war, gab es bislang keine Belege.
Auch die Bruchstücke eines „Harpstädter Rauhtopfes“, die jetzt unter dem einstigen Monse-Parkplatz ans Tageslicht gefördert wurden, sind kein Beweis dafür, dass es an der Stelle des heutigen Oldenburg eine eisenzeitliche Siedlung gab. Sie bezeugen aber die zumindest zeitweise Präsenz von Menschen im Bereich der Innenstadt. Gefäße vom Typus des Harpstädter Rauhtopfes waren in Norddeutschland etwa von 600 bis 400 vor Christus in Gebrauch. Im eisenzeitlichen Mitteleuropa verbrannte man die Toten und bestattete sie anschließend in Keramikgefäßen wie den Rauhtöpfen. Denkbar ist also, dass man in der Kurwickstraße auf die Überreste eines Gräberfelds aus der Zeit um 500 v. Chr. gestoßen ist.
In Europa ist das eine Zeit großer Umbrüche, an deren Rand die norddeutsche Tiefebene steht. Weiter im Süden macht die materielle Kultur, die ihren Namen nach dem Ort Hallstatt im Salzkammergut trägt, der maßgeblich von keltischsprachigen Gruppen getragenen Latènekultur Platz. Die Siedlungen werden größer, die gesellschaftlichen Strukturen komplexer. Vor allem treten Menschen rechts des Rheins mit anderen Regionen in regelmäßigen Kontakt: Menschen wie Objekte werden mobiler.
Die Umwälzungen nördlich der Alpen stehen in engem Zusammenhang mit Entwicklungen im Mittelmeerraum. Dort haben die Griechen und noch vor ihnen die Phönizier ab ca. 1000 v. Chr. damit begonnen, den Westen für ihre Handelsund bald auch Siedlungstätigkeit zu erschließen. Luxusgüter und Know-how gelangen so aus dem Orient nach Europa. knüpfen. Bald sind auch West- und Mitteleuropa per Gabentausch mit den Mittelmeerzivilisationen verflochten. Ein unerhörter Innovationsschub erfasst die Menschen zwischen Alpen und Nordsee.
Ist der Rauhtopf von der Kurwickstraße also ein ferner Reflex dieser ersten Globalisierung der Weltgeschichte? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen ruht möglicherweise noch im Boden. Ob wir sie eines Tages finden, hängt davon ab, wie wir in Oldenburg mit dem archäologischen Erbe unserer Stadt umgehen. Generell tut sich die Stadt mit der
Michael Sommer. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de
Kurz nach 500 v. Chr. ist das Mittelmeer, wie Platon schreibt, ein Teich, um den wie die Frösche die Griechen sitzen. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft: So wechseln Prestigegüter regelmäßig dann den Besitzer, wenn einflussreiche Männer über größere Distanz Kontakt zueinander
Bewahrung historischer Substanz schwer: Der Abriss von Schlüsselbauten wie der Remise an der Auguststraße oder der Cäcilienbrücke und die Verunstaltung gewachsener Stadtviertel durch „Nachverdichtung“sind Sünden, angesichts derer sich kommende Generationen noch die Haare raufen werden.
Sollte sich nicht auch eine Stadt, die wie durch ein Wunder fast unversehrt den Zweiten Weltkrieg überstanden hat, fragen, was ihr die materiellen Spuren der Vergangenheit wert sind? Die Geschichte ist ein Mosaik aus unzähligen solcher Steinchen wie den Bruchstücken des Rauhtopfes. Es liegt an uns zu entscheiden, wie viele davon wir im Herzen tragen oder aber achtlos wegwerfen wollen.