DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID
88. Fortsetzung
Jeden Tag überquerten Boote die Flussmündung auf dem Weg nach Le Havre. Die Menschen hatten bereits Schiffspassagen ins Ausland gebucht.
Claude dachte: Ich schicke sie und den Kleinen allein nach England und bleibe hier, um mich zur Armee zu melden. Aber was sollte Camille in England tun? Wir kennen dort niemanden. Wohin sollen sie gehen? Trotzdem, ich muss kämpfen. Wenn Frédéric sich gemeldet hat, dann muss ich es auch tun, denn ich bin nicht weniger Mann als er!
Claude warf sich auf den Sand und verbarg seinen Kopf in den Händen. Putain! Frédéric!, dachte er. Warum er, und nicht ich?
Resolut stapfte er zum Büro für Schiffspassagen und kehrte dann langsam in das fast leere Hotel zurück. Camille half Jean gerade, Bilder mit Pastellkreide zu malen, und ihre Finger waren hellgrün verschmiert. Sie blickte zu Claude auf. Mehrere Haarsträhnen
waren ihr in den Nacken gefallen, da sie an diesem Morgen den Knoten nur hastig hochgesteckt hatte, als sei sie jederzeit zur Flucht bereit.
,,Wir müssen das Land verlassen", sagte er. ,,Ich habe daran gedacht, dich allein fortzuschicken, aber ich kann es nicht. Ich muss mit dir kommen, um für dich zu sorgen, und außerdem weiß ich nicht, ob meine Freistellung vom Militär in dieser Notsituation noch gültig ist. Ich habe für uns eine Überfahrt von Le Havre nach England gebucht."
,,England!", rief sie. ,,So weit? Ich muss meiner Schwester und meiner Nichte telegrafieren. Ich sollte sie nicht allein lassen."
,,Schlag ihnen vor, die Stadt zu verlassen. Paris könnte eingenommen werden."
,,Glaubst du? Oh, das kann nicht sein!"
Camille lief nach unten, um das Telegramm aufzugeben. Er blickte sich um, wusste nicht, was er als Erstes einpacken sollte. Kniend öffnete er einen kleinen Koffer, betrachtete das
Blumenmuster des Papiers, mit dem er ausgeschlagen war, und verspürte Verwirrung und Scham.
Als sich das Schiff am nächsten Tag zum Ablegen vom Kai in Le Havre bereitmachte, sprang Victoire von Camilles Arm, schlängelte sich durch die Menge die Gangway hinab und verschwand. Jean brach in Tränen aus, aber das Schiff legte ab, und alles, was Camille tun konnte, war, ebenfalls zu weinen. Claude hielt den Arm um sie gelegt, doch als er zurückschaute, dachte er nur, Frédéric. Ich habe dich geschlagen, und du bist fortgegangen. Ich weiß nicht, wohin, du hasst mich.
Zwischenspiel GIVERNY, Januar 1909 Während des Winters arbeitete er wie besessen an seinen Bildern vom Seerosenteich. In ihnen blieb die Zeit stehen. Er malte die Sonne und die Nebelschleier, die Bewegung des Wassers durch den Wind oder das Schwanken der versunkenen Seerosenstengel. Er malte das sich verändernde Licht. Die Leinwände waren horizontal, rund und quadratisch. Manche hielten den abendlichen Eindruck fest, gedämpfte und dunklere Farben, das Wasser immer noch reflektierend.
Täglich versuchte er, die Bilder neu zu sehen. Einige erschreckten ihn und trieben ihn zur Verzweiflung. War das alles, was er in seinem Alter noch zustande brachte? Eines Tages zerschnitt er mehrere in Stücke, trotz des Protests seiner Familie, und später stand er zitternd da, als hätte er einen Teil seiner selbst zerstört. Ich werde keins dieser Bilder je ausstellen, dachte er verbittert, denn sie sind womöglich alle schlecht, selbst die noch übrig gebliebenen. Woher soll ich wissen, was gut oder schlecht ist? Alles, was ich getan habe, könnte vergebens gewesen sein, und mein Leben könnte ein einziges Versagen sein.
Er stürmte ins Haus, in die Küche, und setzte sich mit einem Glas Wein an den Tisch. Er war immer noch verstört, als sein Chauffeur die tägliche Post brachte. Unter den vielen Briefen entdeckte er einen, mit dem er schon nicht mehr gerechnet hatte. Würde er wieder nur ein paar verbitterte Sätze enthalten?
Von allen Tagen würde er es heute am wenigsten ertragen können! Trotzdem öffnete er wider besseres Wissen das Kuvert. Monet, obwohl ich beschlossen hatte, Ihnen nicht mehr zu schreiben, werde ich von diesem Entschluss Abstand nehmen, wenn auch nur kurz, um Ihre Frage zu beantworten, was mit den Briefen passiert ist, die meine Schwester um die Zeit geschrieben hat, als sie Sie kennenlernte. Sie hatte die Briefe in jener Schneenacht, als Sie beide aus Ihrem Zimmer fliehen mussten, mit zu mir gebracht. Sie vergaß die Briefe und bat mich später, sie zu vernichten, aber ich tat es nicht. Ich kann sie jedoch nicht finden. Warum Sie Briefe haben wollen, die sie an einen anderen Mann geschrieben hat, ist mir unverständlich. Ich nehme an, sie hat Sie verhext, wie sie es mit so vielen anderen getan hat.
Wenn ich die Briefe finde, werde ich Ihnen noch einmal schreiben. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.
Annette Lebois
Er stopfte den Brief in die Tasche und ging mit schweren Schritten zurück ins Atelier. Einer der Gärtner hatte bereits die zerschnittenen Leinwände hinausgetragen und zu einem Haufen aufgeschichtet.