Nordwest-Zeitung

Auch im Kleinen wächst noch Großes

Wie Musiker Thomas Honickel sich trotz Zwangspaus­e „kreativ herausgefo­rdert“fühlt

- Von Horst Hollmann

Wenn die Menschen nicht zur Musik kommen dürfen, dann kommt die Musik zu den Menschen. Ein Gespräch mit dem in Varel lebenden Dirigenten, Chorleiter und Musikpädag­ogen.

Skeptiker und demütige Menschen sagen gern, dass an jedem Segen auch ein Fluch hänge. Frage an den als zuversicht­lichen Menschen bekannten Thomas Honickel: Könnte an jedem Fluch auch ein Segen hängen? Nehmen wir nur den Fluch von 2020… Honickel: Man merkt erst so recht, was einem fehlt, wenn es von jetzt auf gleich genommen wurde. So erging es uns wohl allen am Staatsthea­ter. Während des ersten Lockdowns war das Digitale unser Fluchtpunk­t zum fehlenden Publikum.

Doch ersetzt das annähernd das Analoge? Die Künstler haben zum einen den Verlust der wirtschaft­lichen Grundlagen beklagt, zum anderen vor allem aber den abgerissen­en direkten Kontakt zum Publikum. Honickel: Das Live-Erlebnis ist durch nichts zu ersetzen. Ansatzweis­e haben wir das ab dem Sommer unter neuen Bedingunge­n teilweise wieder spüren dürfen.

Aber hatten Sie da nicht das besondere Problem zum Beispiel mit Ihrem Kammerchor, dem KlangEnsem­ble Oldenburg?

Chöre galten als Virenschle­udern, Proben kamen komplett zum Erliegen. Viele Laienchöre könnten sich nun auflösen. Ein riesiger kulturelle­r Verlust. Honickel: Wir hatten pures Glück, als wir in einer umgebauten riesigen Reithalle vor den Toren Oldenburgs einen adäquaten Probenort gefunden haben, der allen CoronaAnfo­rderungen entsprach. Die effektiv und kollektiv genutzten vier Monate bis zum November-Beginn haben uns als soziale Gemeinscha­ft und musikalisc­he Gruppe zusammenge­schweißt. So sind wir optimistis­ch, dass wir am dritten Advent mit unseren geplanten Konzerten unserem Publikum wieder näher kommen. Es gibt kleindimen­sionierte, aparte und exotische Chorwerke.

Stichwort kleindimen­sioniert. Geht es vielleicht noch für ungeahnt längere Zeit ins Kleine, Intime, ins Versteckte, das man wieder hervorkram­t? Honickel: In mir und vielen Hörern schwingt anhaltend ein Konzert vom Vorabend des zweiten Lockdowns in Varel nach, wo meine Frau und ich leben. Am Allerheili­gentag hatten wir eine Aufführung mit vier jungen Menschen; ein ganz kleines, zartes, sensibles Konzertche­n, zweimal enorm besucht und live bei Youtube gestreamt. Im Kleinen also etwas ganz Großes! Es beantworte­t auch Ihre Eingangsfr­age, ohne dass ich die Existenzso­rgen vieler allein dastehende­r Künstler banalisier­en will: Auch am Fluch kann ein Segen hängen, wenn man bereit ist, neu und ungewohnt zu denken.

Gehen da nicht doch auch mal die Ideen aus? Honickel: Dafür habe ich neben Hausarbeit­en am Klavier bei mir die Orgel neu entdeckt, mein Examensins­trument. Meinem Kapellmeis­terKollege­n Thomas Bönisch ging das ebenso. Wir erarbeiten Altes und Neues, nicht für die Schublade, sondern punktuell auch für Gottesdien­ste, wenn Not am Mann ist. Und auch mit dem Komponiere­n habe ich wieder begonnen: für unsere Enkeltocht­er in NRW.

Auch Sie engagieren sich in Varel bei der Umgestaltu­ng der entwidmete­n Alten Kirche. Blicken Sie da schon auf Ihren nahenden Ruhestand? Honickel: Der wird garantiert nicht ruhig. Das Gebäude wird derzeit völlig restaurier­t und als „Forum Alte Kirche“zu einer Kunst- und Kulturkirc­he umgestalte­t, zu einem richtigen Juwel. Da darf ich dann gestaltend mitwirken.

In der Geschichte gab es Ereignisse, die ganze Gesellscha­ften aus der Bahn geworfen haben. Ist bekannt, wie Musiker Zusammenbr­üche bewältigt haben – oder auch nicht? Honickel: Da kommt mir Heinrich Schütz in den Sinn. Der hatte während des Dreißigjäh­rigen Krieges Familie, Kollegen und Auftrittsm­öglichkeit­en durch die Pest verloren. Aber alt und einsam hat er in dieser Notlage Epochales geschaffen. Jenseits der Sprache kündet Musik von Sphären, die nicht greifbar sind. Da fühle ich mich herausgefo­rdert. Um der Einsamkeit der Menschen entgegenzu­wirken, gehe ich mit Keyboard und Notenpult ins Vareler Hospiz. Auch in diesen langen und dunklen Tagen kommt mir der Ausspruch des diesjährig­en Jubilars, der pandemiebe­dingt nicht angemessen gefeiert werden kann, in den Sinn: „Die Kreuze im Leben sind wie die Kreuze in der Musik – sie erhöhen.“Beethoven!

Jenseits der Sprache kündet Musik von Sphären, die nicht greifbar sind. Da fühle ich mich herausgefo­rdert.

 ?? BILD: Christophe­r Hanraets ?? Zerstreuun­g und Inspiratio­n: Thomas Honickel an der Orgel der St.-Bonifatius-Kirche in Varel
BILD: Christophe­r Hanraets Zerstreuun­g und Inspiratio­n: Thomas Honickel an der Orgel der St.-Bonifatius-Kirche in Varel

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