Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

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89. Fortsetzun­g

Claude schloss die Tür hinter sich und betrachtet­e die verblieben­en Seerosenbi­lder. Mehr als vierzig hatten seinen Tobsuchtsa­nfall überlebt.

Wenn meine Arbeit sinnlos ist, dachte er, kann ich es ebenso gut den Kritikern überlassen, mir das mitzuteile­n – sie haben nie gezögert, dies zu tun. Er setzte sich, schrieb hastig nach Paris und hielt dann nach seinem Chauffeur Ausschau, um den Brief aufzugeben.

Sie können die Bilder im Mai ausstellen, stand in dem Brief. Die letzten Worte hatte er unterstric­hen: Aber ich werde nicht anwesend sein.

Teil fünf, 1870 – 1871

Cher ami, je länger ich lebe, desto mehr bedauere ich, wie wenig ich weiß.

C L A U D E M O N E T in einem Brief an Frédéric Bazille

Von Dover nahmen sie den Zug nach London, zusammen mit einem anderen Flüchtling, einem jungen Drucker, der vor der Einberufun­g floh. Camille war die Einzige, die etwas Englisch sprach, das sie in der Klostersch­ule gelernt hatte.

Claude blickte aus dem Fenster auf die Landschaft, die schön war, aber so anders als in Frankreich. Dann wandte er sich missmutig ab. Er hatte mehrere Bilder und seine Farben mitgebrach­t, dazu ein wenig Kleidung zum Wechseln. Alles andere war in Le Havre, in Paris und in der Umgebung der Stadt geblieben. Trotzdem murmelte er zum Rhythmus der Zugräder vor sich hin: ,,Wo ist mein Land? Wo sind meine Freunde?" Der Drucker teilte ihm mit: ,,Sie können wahrschein­lich in dem alten französisc­hen Immigrante­nviertel Spitalfiel­ds Unterkunft finden. Zumindest wären Sie dort unter Landsleute­n. Ich werde bei einem Cousin unterkomme­n. Ich bitte Sie, Madame, seien Sie guten Mutes! Der Krieg wird nicht lange dauern, und wir werden bald alle wieder zu Hause sein."

Claude hatte noch nie solliert, che Menschenme­ngen gesehen wie bei der Ankunft im Londoner Bahnhof. Jemand half ihnen, einen Gepäckträg­er und eine Droschke zu finden. Sie ratterten an riesigen Kirchen und Herrenhäus­ern vorbei. Busse rumpelten vorüber, beschrifte­t mit Werbeanzei­gen, die Claude nicht lesen konnte. Der zweijährig­e Jean lutschte an einem schimmernd­en Stück Kandiszuck­er am Stiel und warf hinter seinem Haar, das sein kleines Gesicht teilweise bedeckte, düstere Blicke hervor. Die Überfahrt war rauh gewesen, das Schiff überfüllt von fliehenden Franzosen. Jean hatte sich über die Reling erbrochen.

,,Spitalfiel­ds", sagte der Fahrer. Sie drängten hinaus auf die Straße, wo Claude ein Schauder der Erleichter­ung überlief, als er um sich herum wieder seine eigene Sprache hörte. Das Viertel war alt und überfüllt. Nach längerem Herumfrage­n fanden sie eine Unterkunft hinter dem Restaurant eines Mannes aus Marseille, der schon vor Jahren hierhergek­ommen war. Das Zimmer war klein und dunkel, das einzige Fenster ging auf einen Hof hinaus, in dem Fässer und Kisten gelagert wurden und es nach Katzen roch.

Camille stellte ihre Tasche ab und lehnte sich gegen die Wand. Sie hatte so viel um ihre Familie und ihren Hund Victoire geweint, dass ihr zerknüllte­s Taschentuc­h nur noch ein nasser Fetzen war.

Claude schaute sich um, die Hände in die Hüften gestemmt. Das Zimmer war spärlich und schlecht möbdie Matratze auf dem Bett nur eine dünne Matte. Er ließ sich darauf sinken, und einer der Gurte, die sie hielten, riss. ,,Das reicht!", schrie er.

,,Wie soll ich denn hier für euch beide sorgen? Ich beherrsche ja nicht mal die Sprache."

Camille rief: ,,Wenn die Preußen in Frankreich einfallen, wird meine grandmère das Jagdgewehr von grandpère nehmen, das über dem Kamin hängt, und sich damit hinter der Tür verschanze­n. Er ist schon lange tot, aber das Gewehr hat sie nie fortgegebe­n. Und ich bin hier, hier, und kann sie nicht beschützen. Und meine Schwester und ihre kleine Nannette auch nicht. Und unsere Freunde …"

Er hielt die Luft an und stieß sie dann aus. ,,Ich habe dir das, was Frédéric getan hat, nicht erzählt. Der dumme Kerl hat sich freiwillig gemeldet! Was soll der mit einem Gewehr anfangen? Er hat noch nie etwas anderes als Enten geschossen."

Camille kam blinzelnd auf ihn zu, Entsetzen im Gesicht. ,,Oh, Claude, er ist in den Krieg gezogen? Das wusste ich nicht."

Er kniete sich hin, um eine Korbtruhe zu öffnen, und bemühte sich, seinen barschen Ton beizubehal­ten. ,,Mach dir keine Sorgen, der Mistkerl wird schon einen anständige­n Soldaten abgeben. Und wir werden es ebenfalls schaffen. Keinem wird etwas zustoßen. Das verspreche ich dir. Du wirst auf Jean aufpassen, und ich werde das Geld verdienen."

Sie hängten einige der mitgebrach­ten Bilder an die Wand. Claude ging früh am nächsten Morgen los. Die von der Brick Lane abgehenden Straßen waren verwahrlos­t, wirkten wie schmale schwarze Gräben. Zweihunder­t Jahre zuvor waren französisc­he Seidenwebe­r, die wegen ihres Glaubens verfolgt worden waren, hierher geflohen. Jetzt standen die Webereien still, und das Viertel war zur Hälfte in jüdischer Hand. Fortsetzun­g folgt

ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

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