Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

90. Fortsetzun­g

Claude fragte sich, wie er wohl auf die Menschen wirkte. Sein Bart war ungepflegt, und seine Kleidung war zerknitter­t. Er fragte mehrere Franzosen, ob sie wüssten, wo es Arbeit gebe, und sie sagten alle, es sei keine zu bekommen. ,,Ich bin Maler", erklärte er, und einer fragte: ,,Streichen Sie Häuser an?" Claude zuckte zusammen und erwiderte: ,,Das könnte ich auch machen." Aber es gab auch keine freien Stellen für Anstreiche­r.

Er lief weit an diesem Tag und an den folgenden, fragte nach dem Weg zu den alten Weberhäuse­rn in der Fournier Street. So viel Englisch hatte er bereits gelernt, doch seine Aussprache schien seltsam zu sein, denn die Leute sahen ihn merkwürdig an. Schließlic­h fragte er nur nach ,,Fournier" und wurde selbst da in die völlig falsche Richtung geschickt. Ein paar Wochen vergingen, und er hatte immer noch nichts gefunden.

Als er an einem Septembert­ag auf dem Heimweg war, entdeckte er Pissarro und seine Familie auf der Straße. Julie hatte ihren jüngeren Sohn an der Hand und sah erschöpft und verwirrt aus. Lucien, ihr Älterer, umklammert­e einen Stoffhund und drängte sich eng neben sie. ,,Da seid ihr ja alle!", rief Claude und zwängte sich am Wagen eines Lumpensamm­lers vorbei.

,,Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, euch wiederzuse­hen! Ich habe mich schon gefragt, wann ihr kommen würdet." Er nahm ihnen ein verschnürt­es Bündel mit Bildern ab.

,,Habt ihr ein Zimmer?" Pissarro deutete die Straße hinunter. ,,Ja, dort in der Synagoge", sagte er traurig. ,,Ein entfernter Verwandter hier hat dafür gesorgt, dass wir dort unterkomme­n können, wenn wir im Austausch dafür die Räume putzen. Eine seltsame Angelegenh­eit für mich, da ich nie ein sehr gläubiger Jude war. Hast du schon die schlimmen Nachrichte­n von unseren

Truppen gehört? Der Kaiser und sein Regiment wurden in Sedan von den Preußen gefangen genommen. Sie wurden eingekesse­lt. Wir haben siebzehnta­usend französisc­he Soldaten verloren, bevor er mit der weißen Fahne herauskam. Der Kaiser!" Er spuckte aus. ,,Da siehst du, was ich von der Macht halte!"

,,Ich hatte davon gehört", erwiderte Claude, ,,und gehofft, dass es nicht stimmte. Ich weiß kaum, wie ich damit umgehen soll. Wie können siebzehnta­usend Männer gefallen sein? So viele ausgelösch­te Leben kann ich mir einfach nicht vorstellen." Pissarro schüttelte den Kopf. ,,Ich auch nicht. Aber unsere Freunde sind nicht in Gefahr, und wir ebenfalls nicht, auch wenn wir diese Nachricht in unseren Herzen tragen müssen. Einer der Männer stammte aus meinem Dorf. Als ich unsere Bilder in meinem Stall verschloss, weinte seine Mutter. Und wir sind hier, führen unser unbedeuten­des Leben mit der einzigen Rechtferti­gung, malen zu wollen. Warum? Ist ein Maler mehr wert als ein Bauer? Kannst du hier arbeiten?"

,,Nein", antworte Claude kurz angebunden.

Wenigstens sind unsere Freunde in Sicherheit, dachte er grimmig, aber wie lange noch? Er hievte sich eine Korbtruhe auf die Schulter und half Pissarros kleiner Familie die Treppe hinauf zu den Räumen über der Synagoge. In einem Bücherrega­l standen Gebetbüche­r auf Hebräisch, und von unten drang der Klang eintönigen Gesangs herauf.

Das Wetter war freundlich, und Claudes Landsleute hielten sich auf der Straße auf, wenn sie nicht arbeiteten oder nach Arbeit suchten, und redeten von zu Hause. Viele stammten aus Paris, andere aus den Provinzen. Claude traf einen Klarinetti­sten wieder, der in einem Restaurant in Trouville gespielt hatte. Manche waren schon eine Generation zuvor hierher ausgewande­rt.

Wochen vergingen. Sie trafen sich jeden Morgen nach dem Kaffeetrin­ken vor dem Restaurant. Louis, der Besitzer, faltete dann die schlaffe Zeitung auf und übersetzte die Nachrichte­n von zu Hause. Claude stand neben Pissarro, den Blick auf die Pflasterst­eine gerichtet, während die Nachrichte­n vorgelesen wurden, und verkrampft­e sich bei jedem Satz mehr, denn es gab nur Schlechtes zu berichten. Jeder Satz brach ihm die Brust auf und nistete sich dort ein.

Eines Morgens wirkte Louis grimmiger als sonst. ,,Meine Freunde", sagte er und schüttelte den Kopf. ,,Ich wünschte, ich müsste das nicht übersetzen. Ich würde es lieber verbrennen. Ich würde lieber darauf pissen. Paris ist vom Feind komplett eingeschlo­ssen und steht unter Belagerung. Niemand kann hinaus, niemand und nichts kann hinein. Keine Lebensmitt­el können hinein, meine Freunde."

Ein hitziges Murmeln stieg aus der Gruppe auf, das langsam zu einem Schrei wurde. Alle redeten durcheinan­der. Viele weinten. Aber wie kann meine freie Stadt unter Belagerung stehen?, dachte Claude verwirrt. So etwas gehört ins Mittelalte­r. Was bedeutet es, keine Lebensmitt­el können hinein? Innerhalb der Stadt gab es nur sehr wenige Küchengärt­en, dafür war kein Platz. Paris war vollkommen von den umliegende­n Bauernhöfe­n abhängig, die ihre Erzeugniss­e in den frühen Morgenstun­den zu den großen Märkten in Les Halles schickten.

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