Was Nürnberg uns heute sagt
Historiker Magnus Brechtken über die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen
Es war ein Mammutprozess gegen Schwerstverbrecher, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte: Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die Mitglieder der Nazi-Elite, derer man habhaft werden konnte.
Wir haben uns in der Redaktion gefragt, was dieser Prozess noch immer für die Gegenwart bedeutet. Mein Kollege Hans Begerow hat sich deswegen mit dem Historiker Magnus Brechtken auch über diese Frage unterhalten. Er sagt: Auch wenn es noch immer eine politische Machtfrage ist – heute müssen Kriegsverbrecher mit Strafe rechnen. Am Anfang dieser positiven Entwicklung stand der Prozess in Nürnberg.
Die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen ist nach Auffassung des Historikers Prof. Dr. Magnus Brechtken zumindest teilweise gelungen. Eine Bilanz zum Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse vor genau 75 Jahren.
Professor Brechtken, worin besteht das Besondere des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher? Brechtken: Es war das erste Mal, dass sich Vertreter einer Staatsführung in dieser Weise vor einem Gericht zu verantworten hatten, verurteilt und hingerichtet wurden. Dies brach mit mehreren überkommenen Traditionen. Staatsoberhäupter und die politische Führung von Kriegsparteien waren zuvor nach dem Krieg zwar entmachtet, verbannt oder ins Exil getrieben, aber nicht weiter juristisch verfolgt worden. Auch die juristische Konstruktion war neu: Nach dem Selbstverständnis der Nationalsozialisten hatten sie im Rahmen ihrer Rechte gehandelt und aus ihrer Sicht nichts „Unrechtes“getan. Aber die NS-Verbrechen in ganz Europa waren so offensichtlich und weitreichend, dass hier bewusst gesagt wurde: Wir können nach einem solch verheerenden Krieg nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern wir müssen die Verantwortlichen nach übergeordneten Maßstäben zur Rechenschaft ziehen.
Das Experiment, die Sieger Gericht halten zu lassen, ist es gelungen? Brechtken: Die unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Alliierten waren schon während des Hauptkriegsverbrecherprozesses sichtbar. Insbesondere zwischen der Sowjetunion einerseits und den Vereinigten Staaten und Großbritannien andererseits lagen juristische Welten. Aber die Gegensätze wurden durch das gemeinsame Interesse gegen den Nationalsozialismus überbrückt. Im Kern blieben
die Unterschiede jedoch erhalten und zeigten sich in den folgenden Jahren in der Herausbildung des Kalten Krieges. Historisch entscheidend war allerdings, dass mit Nürnberg praktisch und symbolisch zugleich ein Zeichen gesetzt wurde. Jeder künftige Politiker und Staatsverantwortliche konnte dies als Warnung sehen: Es ist möglich, dass nach einem Krieg juristische Konsequenzen auf mich zukommen. Entscheidend bleibt allerdings stets die reale Machtfrage, ob juristische Konsequenzen überhaupt durchgesetzt werden können.
Nach dem Prozess gegen Göring und Co. gab es weitere Prozesse. Wie würden Sie die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen beurteilen? Brechtken: Die sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse vor allem gegen jene Gruppen, die wir als „Funktionseliten“bezeichnen – Mediziner, Diplomaten, Wirtschaftsführer und andere – waren von juristischer wie von symbolischer Bedeutung. Sie zeigten auch diesen Angeklagten – und der Gesellschaft, aus der sie kamen –, dass ihre Taten nicht ohne Konsequenzen blieben. Die Wirkungen waren unterschiedlich. Während der Prozess gegen die SS ein hohes Maß an Wirkung hatte, kamen Angehörige vieler anderer Berufsgruppen, die den Nationalsozialismus getragen hatten, in der Bundesrepublik rasch wieder in wichtige Positionen. Viele Funktionsträger erhielten die Möglichkeit, sich im demokratischen Staat zu bewähren. Die juristische Aufarbeitung selbst wurde zumindest versucht. Das Institut für Zeitgeschichte hat 51 400
Justizverfahren zu NS-Verbrechen, die seit 1945 von Staatsanwaltschaften und Gerichten in West- und Ostdeutschland durchgeführt worden sind, katalogisiert. Sie zeigen, dass es eine Vielfalt juristischer Anläufe gegeben hat, dass allerdings nur sehr wenige zu einer Verurteilung führten. Man muss konstatieren, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik in den 1950er Jahren mehr daran interessiert war, die Vergangenheit zu beschweigen und hinter sich zu lassen als Taten zu sühnen.
Die Prozesse gegen Nazi-Verbrecher waren lange Zeit die
einzigen gegen Verantwortliche von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erst in den 90er Jahren gerieten neuere Verbrechen vor den Internationalen Gerichtshof. Hätte es eines solchen Gerichtshofs nicht schon früher bedurft? Brechtken: Das Beispiel des Internationalen Gerichtshofes zeigt, dass die Möglichkeit, Verantwortliche von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden, im Kern eine Machtfrage bleibt. Nur wenn der Gerichtshof und die ihn unterstützenden Staaten zusammenarbeiten und zugleich ausreichend Macht besitzen, um Verantwortliche zu verfolgen, können diese auch vor Gericht gestellt werden. Aber die Entwicklung über die Jahrzehnte seit 1945 zeigt, dass dies allein schon ein Fortschritt ist. All jenen, die Kriegsverbrechen begehen, steht vor Augen, dass sie bei entsprechender Verschiebung der Macht selbst vor Gericht gelangen könnten. Das hat sicher oft nur eine symbolische Wirkung, ist aber gleichwohl wichtig.