Nordwest-Zeitung

Was Nürnberg uns heute sagt

Historiker Magnus Brechtken über die Aufarbeitu­ng der Nazi-Verbrechen

- Diskutiere­n Sie mit unter leserforum@nwzmedien.de Alexander Will, Mitglied der Chefredakt­ion

Es war ein Mammutproz­ess gegen Schwerstve­rbrecher, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte: Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die Mitglieder der Nazi-Elite, derer man habhaft werden konnte.

Wir haben uns in der Redaktion gefragt, was dieser Prozess noch immer für die Gegenwart bedeutet. Mein Kollege Hans Begerow hat sich deswegen mit dem Historiker Magnus Brechtken auch über diese Frage unterhalte­n. Er sagt: Auch wenn es noch immer eine politische Machtfrage ist – heute müssen Kriegsverb­recher mit Strafe rechnen. Am Anfang dieser positiven Entwicklun­g stand der Prozess in Nürnberg.

Die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Nazi-Verbrechen ist nach Auffassung des Historiker­s Prof. Dr. Magnus Brechtken zumindest teilweise gelungen. Eine Bilanz zum Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse vor genau 75 Jahren.

Professor Brechtken, worin besteht das Besondere des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r? Brechtken: Es war das erste Mal, dass sich Vertreter einer Staatsführ­ung in dieser Weise vor einem Gericht zu verantwort­en hatten, verurteilt und hingericht­et wurden. Dies brach mit mehreren überkommen­en Traditione­n. Staatsober­häupter und die politische Führung von Kriegspart­eien waren zuvor nach dem Krieg zwar entmachtet, verbannt oder ins Exil getrieben, aber nicht weiter juristisch verfolgt worden. Auch die juristisch­e Konstrukti­on war neu: Nach dem Selbstvers­tändnis der Nationalso­zialisten hatten sie im Rahmen ihrer Rechte gehandelt und aus ihrer Sicht nichts „Unrechtes“getan. Aber die NS-Verbrechen in ganz Europa waren so offensicht­lich und weitreiche­nd, dass hier bewusst gesagt wurde: Wir können nach einem solch verheerend­en Krieg nicht einfach zur Tagesordnu­ng übergehen, sondern wir müssen die Verantwort­lichen nach übergeordn­eten Maßstäben zur Rechenscha­ft ziehen.

Das Experiment, die Sieger Gericht halten zu lassen, ist es gelungen? Brechtken: Die unterschie­dlichen Rechtsauff­assungen der Alliierten waren schon während des Hauptkrieg­sverbreche­rprozesses sichtbar. Insbesonde­re zwischen der Sowjetunio­n einerseits und den Vereinigte­n Staaten und Großbritan­nien anderersei­ts lagen juristisch­e Welten. Aber die Gegensätze wurden durch das gemeinsame Interesse gegen den Nationalso­zialismus überbrückt. Im Kern blieben

die Unterschie­de jedoch erhalten und zeigten sich in den folgenden Jahren in der Herausbild­ung des Kalten Krieges. Historisch entscheide­nd war allerdings, dass mit Nürnberg praktisch und symbolisch zugleich ein Zeichen gesetzt wurde. Jeder künftige Politiker und Staatsvera­ntwortlich­e konnte dies als Warnung sehen: Es ist möglich, dass nach einem Krieg juristisch­e Konsequenz­en auf mich zukommen. Entscheide­nd bleibt allerdings stets die reale Machtfrage, ob juristisch­e Konsequenz­en überhaupt durchgeset­zt werden können.

Nach dem Prozess gegen Göring und Co. gab es weitere Prozesse. Wie würden Sie die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Nazi-Verbrechen beurteilen? Brechtken: Die sogenannte­n Nürnberger Nachfolgep­rozesse vor allem gegen jene Gruppen, die wir als „Funktionse­liten“bezeichnen – Mediziner, Diplomaten, Wirtschaft­sführer und andere – waren von juristisch­er wie von symbolisch­er Bedeutung. Sie zeigten auch diesen Angeklagte­n – und der Gesellscha­ft, aus der sie kamen –, dass ihre Taten nicht ohne Konsequenz­en blieben. Die Wirkungen waren unterschie­dlich. Während der Prozess gegen die SS ein hohes Maß an Wirkung hatte, kamen Angehörige vieler anderer Berufsgrup­pen, die den Nationalso­zialismus getragen hatten, in der Bundesrepu­blik rasch wieder in wichtige Positionen. Viele Funktionst­räger erhielten die Möglichkei­t, sich im demokratis­chen Staat zu bewähren. Die juristisch­e Aufarbeitu­ng selbst wurde zumindest versucht. Das Institut für Zeitgeschi­chte hat 51 400

Justizverf­ahren zu NS-Verbrechen, die seit 1945 von Staatsanwa­ltschaften und Gerichten in West- und Ostdeutsch­land durchgefüh­rt worden sind, katalogisi­ert. Sie zeigen, dass es eine Vielfalt juristisch­er Anläufe gegeben hat, dass allerdings nur sehr wenige zu einer Verurteilu­ng führten. Man muss konstatier­en, dass die Gesellscha­ft der Bundesrepu­blik in den 1950er Jahren mehr daran interessie­rt war, die Vergangenh­eit zu beschweige­n und hinter sich zu lassen als Taten zu sühnen.

Die Prozesse gegen Nazi-Verbrecher waren lange Zeit die

einzigen gegen Verantwort­liche von Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Erst in den 90er Jahren gerieten neuere Verbrechen vor den Internatio­nalen Gerichtsho­f. Hätte es eines solchen Gerichtsho­fs nicht schon früher bedurft? Brechtken: Das Beispiel des Internatio­nalen Gerichtsho­fes zeigt, dass die Möglichkei­t, Verantwort­liche von Verbrechen gegen die Menschlich­keit zu ahnden, im Kern eine Machtfrage bleibt. Nur wenn der Gerichtsho­f und die ihn unterstütz­enden Staaten zusammenar­beiten und zugleich ausreichen­d Macht besitzen, um Verantwort­liche zu verfolgen, können diese auch vor Gericht gestellt werden. Aber die Entwicklun­g über die Jahrzehnte seit 1945 zeigt, dass dies allein schon ein Fortschrit­t ist. All jenen, die Kriegsverb­rechen begehen, steht vor Augen, dass sie bei entspreche­nder Verschiebu­ng der Macht selbst vor Gericht gelangen könnten. Das hat sicher oft nur eine symbolisch­e Wirkung, ist aber gleichwohl wichtig.

 ??  ??
 ?? BILD: DB ?? Die Welt blickte in den Verhandlun­gssaal der Nürnberger Prozesse im Justizpala­st. Links im Bild die Angeklagte­n auf der Bank, bewacht von US-Soldaten (Aufnahme von 1945).
BILD: DB Die Welt blickte in den Verhandlun­gssaal der Nürnberger Prozesse im Justizpala­st. Links im Bild die Angeklagte­n auf der Bank, bewacht von US-Soldaten (Aufnahme von 1945).

Newspapers in German

Newspapers from Germany