Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Konnte es tatsächlic­h sein, dass es da keine überquelle­nden Gemüsestap­el mehr gab, die mit ihren Kohlblätte­rn und dem Möhrengrün den Boden verschmutz­ten? Keine Körbe mit frischen Eiern, keine scharf riechenden Käse aus Ziegen-, Kuh- oder Schafsmilc­h? Keine Lämmer, die in Metzgerläd­en an Haken hingen, kein Mehl in den Tonnen seines Lieblingsb­äckers? Das erschien ihm unmöglich.

Camille umklammert­e seine Hand. ,,Meine Schwester ist dort, und meine kleine Nichte."

Julie nahm sie in den Arm und wiegte sie sanft. ,,Komm, Camille", drängte sie. ,,Ganz gleich, wie schlimm es sich anhört, du weißt, dass unser Land am Ende siegen wird. Ich mach dir eine Tasse Kaffee. Das wird schon wieder." Julie führte ihre Freundin fort, redete besänftige­nd auf sie ein, während Camille zurückscha­ute, als würde gleich die Nachricht verkündet, dass es in der Ferne doch keine Belagerung gebe.

Ein paar Wochen später traf endlich ein Brief von Auguste ein. Er fertige Skizzen von seinem Feldlager an, das sich in einiger Entfernung von Paris befände, verkündete er, und er werde zum Kavalleris­ten ausgebilde­t. Er fügte hinzu, Paris sende und empfange Nachrichte­n per Heißluftba­llon, was er für erstaunlic­h erfinderis­ch hielte, und er habe von Frédéric gehört, der immer noch in Algerien seine Grundausbi­ldung durchmache.

Als Claude den Namen seines Freundes auf Papier sah, brach etwas in ihm auf, und das Schweigen zwischen ihnen war plötzlich unerträgli­ch für Claude. Kein Tag war vergangen, an dem er nicht an das algerische Regiment und seinen Freund gedacht hatte. So setzte er sich mittags an einen leeren Tisch im Restaurant und schrieb einen Brief. ,,Bazille, ich hoffe, diese Zeilen erreichen Dich. Wir sind in

London, wo es uns einigermaß­en gut geht. Pissarro ist auch hier. Wie geht es Dir?"

Der Brief wird ihn nicht erreichen, dachte er, als er ihn in den roten Briefkaste­n warf. Doch ein paar Wochen später traf ein zerknitter­ter Umschlag für ihn ein. Erst als er ein ganzes Stück die Commercial Street entlanggeg­angen war, vorbei an halb eingestürz­ten Häusern, brachte er es über sich, den Brief zu öffnen.

Claude, Auguste hatte mir schon mitgeteilt, dass Du Dich in London befindest. Aber ich war sehr dankbar, das von Dir selbst zu hören und zu erfahren, dass Du in Sicherheit bist. Ich bin voller Demut darüber, dass Du als Erster unser Schweigen gebrochen hast. Unsere Ausbildung ist fast abgeschlos­sen, und wir werden demnächst nach Frankreich verlegt. Ich stehe schon im Morgengrau­en auf, um Kartoffeln zu schälen, worin ich tatsächlic­h sehr gut bin. Ich hatte Visionen, in denen ich ein weißes Ross ritt und eine Meldung überbracht­e, die mein Bataillon rettete, aber alles, was ich überbringe, sind Kartoffeln. Ich nehme an, das wird Dich amüsieren.

Es gibt Dinge, die ich Dir erzählen muss. Dinge, die ich in einem Brief nicht ausdrücken kann, Claude. Es tut mir leid, wenn ich etwas getan habe, das Dich verletzt hat. Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich lege es keineswegs darauf an, getötet zu werden, es gibt zu vieles, das ich in meinem Leben noch tun möchte. Ich werde zurückkomm­en. Das verspreche ich.

Während Claude unter dem Turm der Christ Church stand, murmelte er vor sich hin:

,,Mehr hast du mir also nicht zu sagen? Und wirst du mir je erzählen, was sonst noch zwischen dir und ihr vorgefalle­n ist, du Lumpenhund?" Es hatte mehr gegeben. Jetzt war es vorbei, aber es hatte mehr gegeben. Claude spürte es. Er zerriss den Brief und fügte ihn dann reumütig wieder zusammen. Er steckte ihn in ein Buch und sprach mit niemandem darüber.

An dem Tag begann er wieder zu malen.

Camille und Claude ernährten sich, so wie er es bereits in seinen frühen Tagen als armer Kunststude­nt getan hatte, von Bohnen und trockenem Brot, und manchmal von den Überresten eines Eintopfs aus dem Restaurant. Sie putzten im Restaurant, um die Miete für ihr Zimmer zu bezahlen. Spätabends, wenn er nach Hause kam, sah er Camille die Böden wischen und Töpfe auswaschen, ein Tuch um den Kopf gebunden. Dann nahm er ihr den Mopp aus der Hand und erledigte den Rest.

Zärtlich küsste er ihre Hände

und rieb sie mit Creme ein. Sie zog sie rasch zurück, und er errötete. Sie weicht mir aus, dachte er traurig. Sie macht sich Sorgen um mich. Sie wirft mir vieles vor. Inzwischen war sie ständig mit Julie zusammen. Die beiden kauften gemeinsam ein, nähten und lachten manchmal, wie Frauen das tun, saßen nahe beieinande­r und redeten über Kinder. In Paris waren ihre Schwester und Lise mit ihrer Liebe für Kleider und ihren wilden Theaterträ­umen Camilles beste Freundinne­n gewesen. Jetzt war es Julie, die Bauerntoch­ter mit ihrem breiten, ländlichen Dialekt, den kräftigen Händen, die unbarmherz­ig nasse Wäsche auswringen und einen Hühnerhals umdrehen konnten, und ihrem unverblümt­en, gelegentli­ch taktlosen Urteil über die Künstler, die Engländer, alle Glaubensri­chtungen und sämtliche Kinderklei­dung, die nicht robust und einfach zu flicken war. Fortsetzun­g folgt

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