Von der Kraft der Phantasie: Wie eine muffige Schulaula zum Piratenschiff wird
Nie werde ich vergessen, wie es war, als ich Bettina Göschl zum ersten Mal auf der Bühne erlebt habe. Klar habe ich mich sofort in sie verliebt, aber das ist eine andere Geschichte. Schlagartig wurde mir bewusst, welche Kraft Kunst in Menschen freizusetzen vermag.
Es war eine hässliche Aula in einem abgewrackten Schulhaus. Es roch nach Staub und Bohnerwachs. Sie kam mit ihrer Gitarre auf die schlecht beleuchtete Bühne. Da standen ein Tisch und ein wackliger Stuhl.
Im Saal vielleicht hundert Grundschulkinder und ein halbes Dutzend Erwachsene. Bettina machte eine raumgrei
Klaus-Peter Wolf, Bestsellerautor und Erfinder der Ostfrieslandkrimis, schreibt jede
Woche für unsere Zeitung auf, was ihm als Wahl-Ostfriesen an Norddeutschland so sehr gefällt.
fende Geste und sagte: „Wir verwandeln jetzt diese Aula in ein Piratenschiff. Dazu brauchen wir nur die Hilfe unserer Phanta …“
„…sie!“riefen mehrere Kinder gleichzeitig und es geschah augenblicklich. Der Raum verwandelte sich und mit ihm die Menschen darin. Die Kinder verstanden Bettina sofort. Die Erwachsenen brauchten etwas länger. Plötzlich roch es nach Salz und Fisch und Pulverdampf, wir wurden eine verschworene Gemeinschaft und trotzten allen Gefahren. Für eine kurze Zeit waren wir glücklich und stark. In uns wuchs die Gewissheit, nicht ohnmächtig zu sein, sondern die Welt gestalten zu können.
Dieses Wissen um die Kraft der Phantasie trage ich seitdem in mir. Ich bin gerade in Hamburg, wo ich traditionell meine Romane als Hörbücher einlese. Die Stadt macht einen ausgestorbenen Eindruck. Restaurants und Cafés sind geschlossen. Ich bin einer der wenigen Gäste im Hotel. Corona verwandelt Hamburg in eine Geisterstadt. Im schalldichten Studio bin ich sicher. Da sind außer mir nur mein Regisseur Ulrich Maske und Kai, der Tontechniker.
Eigentlich eine traurige Situation. Aber wenn ich vorlese, werde ich zu Ann Kathrin Klaasen, zu Rupert, zu Weller oder zum Serienkiller. Dann merke ich, dass ich Ostfriesland in mir trage und überall mit hinnehme. Plötzlich hat mein Lieblingscafé wieder geöffnet. Ich sitze bei ten Cate. Es riecht nach Mandeln und Tee. Monika Tapper bringt mir mit einem zauberhaften Lächeln ein Stück Sanddorntorte.
Wenn im Norddeicher Yachthafen der Showdown stattfindet, zerwühlt mir der
Nordwestwind hier im Studio bei geschlossenem Fenster die Haare. Ich blicke vom Text auf und sehe nicht meinen Regisseur hinter der Glasscheibe. Nein, ich sehe das Publikum in der Emder a Lasco Bibliothek atemlos lauschen und höre die Fans herzhaft lachen, weil Rupert mal wieder Mist baut.
Ich lasse hier im Studio „mein Ostfriesland“entstehen, und ich höre Bettina Göschls Satz: „Dazu brauchen wir nur die Hilfe unserer Phanta …“
„…sie!“rufe ich ihr begeistert zu.
Alle Kolumnen unter:
@ www.nwzonline.de/mein-ostfriesland