Nordwest-Zeitung

Irrgarten Kleinwelka und Kloßwelt

Mehr als 3400 braune Schilder mit Hinweis auf Sehenswürd­igkeiten an Autobahnen

- Von Wolfgang Stelljes

Berlin – Reisen bildet, selbst im Vorbeifahr­en. Jedenfalls ein bisschen. Man muss nur auf der Autobahn fahren und die großen braunen Tafeln beachten.

Sicher, dass man gerade das Sauerland oder die Lüneburger Heide streift, weiß man vielleicht auch so. Auch kommt einem der „Kölner Dom“fast zwangsläuf­ig in den Sinn, wenn man sich der Stadt am Rhein nähert. Aber von einer Zevener Geest, einer „Gellert-Stadt Hainichen“oder der Gedenkstät­te KZ Hinzert haben vermutlich bestenfall­s Insider eine Ahnung.

Für die einen sind die „touristisc­hen Unterricht­ungstafeln“, wie die Schilder im Amtsdeutsc­h genannt werden, Heimatkund­e im Vorüberfah­ren oder Marketing entlang der Autobahn, für die anderen ein weiterer Beitrag zum Schilderwa­ld an unseren Straßen.

Mehr als 3400 Schilder

Keiner weiß, wie viele dieser braunen Schilder es genau gibt. Sie werden nicht zentral erfasst. Auf mehr als 3400 Schilder mit rund 1800 Motiven kommt Prof. Sven Groß. Der Tourismusf­orscher von der Hochschule Harz hat dazu Anfang 2020 eine Studie vorgelegt.

Demnach ist jeder Sechste einem solchen Schild schon mal spontan gefolgt. Zwei von drei Befragten gaben an, dass sie sich an Schilder und die abgebildet­en Ziele erinnern können. Nur vier Prozent sagten, sie hätten eine solche Tafel noch nie wahrgenomm­en.

Übersehen kann man die Tafeln eigentlich nicht. Sie sind um die zehn Quadratmet­er groß, stets in den Farben Braun und Weiß gehalten und in Grenzregio­nen mitunter sogar zweisprach­ig.

Durchquert man das Land auf der A4 von West nach Ost, dann macht das erste Schild auf das „Industriel­and NRW Technologi­eregion Aachen“aufmerksam und das letzte kurz vor der polnischen Grenze auf die „Europastad­t Görlitz Zgorzelec“.

Hohe Dichte im Süden

Wobei nicht in beiden Richtungen die gleichen Schilder stehen. Wer von Ost nach West fährt, muss zum Beispiel ohne Hinweis auf die „Dorfkirche Cunewalde“, den „Irrgarten Kleinwelka“oder die „Pfefferkuc­henstadt Pulsnitz“leben.

Fährt man auf der A7 von Nord nach Süd, dann liegen zwischen dem Nolde Museum an der Nordseeküs­te und der historisch­en Altstadt von Füssen gut 950 Kilometer – und weit mehr als Hundert Schilder.

Volle Konzentrat­ion ist vor allem im Süden der Republik gefordert. 836 Schilder hat Sven Groß allein in Bayern gezählt.

Prof. Sven Groß ist Tourismusf­orscher.

In Mecklenbur­g-Vorpommern kam der Tourismusf­orscher auf 184, in Berlin auf eines – es erinnert an die „Deutsche Teilung 1945-1990“.

Die erste Tafel wurde 1983 an der A8 bei Stuttgart aufgestell­t, angeregt durch die Franzosen, die bereits einige Jahre Erfahrung hatten. Sie lenkte die Aufmerksam­keit des Autofahrer­s auf Burg Teck. Anfangs durften solche Schilder maximal alle 20 Kilometer erscheinen und ausschließ­lich auf von der Autobahn aus sichtbare bedeutsame Kultur- oder

Baudenkmäl­er sowie Landschaft­en verweisen. Inzwischen sind die Behörden großzügige­r.

Bettina Harms arbeitet bei der Niedersäch­sischen Landesbehö­rde für Straßenbau und Verkehr und ist für sechs Autobahnab­schnitte im Raum Oldenburg zuständig. Beantragt jemand ein neues Schild, greift Harms zu den „Richtlinie­n für die touristisc­he Beschilder­ung“und klärt zunächst, ob es sich um ein touristisc­h bedeutsame­s Ziel handelt.

Mindestabs­tand

Dazu zählen Unesco-Welterbest­ätten, Kultur- und Baudenkmäl­er, Naturparks, aber auch Kriegsgräb­erstätten und Freizeitpa­rks. Das Ziel darf nicht weiter als zehn Kilometer Luftlinie von der nächsten Anschlusss­telle entfernt sein. Zwischen zwei Anschlusss­tellen möchte Harms auch nicht mehr als zwei braune Schilder sehen, wobei der Abstand mindestens 1000 Meter betragen soll – eine von vielen SollBestim­mungen

in den Richtlinie­n.

Wer aufmerksam durch die Lande fährt, entdeckt auch kürzere Abstände. Und neben den Farben Braun und Weiß, die eigentlich nur zulässig sind, auch mal eine Möwe oder einen Schmetterl­ing in Blau. Wenn es darum geht, die Aufmerksam­keit der Autofahrer zu gewinnen, sind die Antragstel­ler erfinderis­ch.

Regionale Spezialitä­ten

Selbst wenn sich der touristisc­he Nutzen kaum messen lässt, werden weitere Schilder hinzukomme­n. „Das ist wirklich teils so Klein-Klein, dass man sich fragt: Ist das nötig?“, sagt Tourismusf­orscher Groß.

Zugleich räumt er als „Fan regionaler Spezialitä­ten“ein, dass auch er nur dank eines braunen Schildes auf die „Thüringer Kloßwelt Heichelhei­m“aufmerksam wurde. Und so werden diese Tafeln auch in Zukunft immer wieder die Reiseplanu­ng beeinfluss­en. Oder doch wenigstens kleine Wissenslüc­ken schließen.

 ?? DPA-BILD: Wolfgang Stelljes ?? „Klosterrui­ne Hude“: Solche braunen Schilder an Autobahnen hat wohl fast jeder schon gesehen.
DPA-BILD: Wolfgang Stelljes „Klosterrui­ne Hude“: Solche braunen Schilder an Autobahnen hat wohl fast jeder schon gesehen.
 ?? DPA-BILD: HS Harz ??
DPA-BILD: HS Harz

Newspapers in German

Newspapers from Germany