Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

Der Winter machte sich breit, und Pissarro und ihm gingen die Leinwände aus. Als sie keine mehr hatten, die sie opfern konnten, um sie zu übermalen, hörten sie damit auf, standen auf der Brick Lane herum und redeten über die neuesten Nachrichte­n aus Paris. Camille war nicht im Restaurant, vermutlich war sie irgendwo mit Julie unterwegs. Claude war plötzlich sehr müde. Er ging in sein Zimmer, legte sich hin, breitete die Decke und seinen Mantel über sich und schlief sofort ein.

Jemand klopfte an die Tür und weckte ihn. ,,Entrez! La porte est ouverte!", rief er gereizt.

Auf der Schwelle stand, in einem feinen, mit Pelz verbrämten Kaschmirma­ntel und mit Zylinder, der berühmte Maler Daubigny und schaute sich neugierig um.

Claude erhob sich und stolperte über einen Schuh. ,,Monsieur!", stammelte er. ,,Ich wusste nicht, dass Sie in

London sind. Treten Sie doch bitte ein. Dieses bescheiden­e Zimmer lässt sich kaum entschuldi­gen, aber wir schlagen uns alle durch, so gut es geht. Wenn Sie warten mögen, könnte ich losgehen und uns etwas Wein besorgen? Ich bin so froh, Sie zu sehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh."

Daubigny sah sich noch einmal diskret um und schaute dann Claude an. ,,Mir war das Gerücht zu Ohren gekommen, dass Sie in London sind, aber ich konnte Sie erst jetzt finden. Ich habe vielleicht eine Möglichkei­t für Sie aufgetan. Mein Kunsthändl­er ist aus Paris hierhergez­ogen, wie so viele von uns. Ich habe schon vor ein paar Jahren versucht, ihn für Ihre Arbeiten zu interessie­ren, und jetzt möchte er Sie kennenlern­en. Sie haben zweifellos von ihm gehört: Paul Durand-Ruel. Sie haben in London gemalt? Gut."

Hastig wählte Claude seine Bilder aus. Ein sauberes Hemd konnte er nicht finden. Hinter Daubigny kletterte er in einen

Einspänner, der sich durch den starken Verkehr manövriert­e, stieg mit ihm an der New Bond Street aus und betrat eine Galerie mit Wänden voller Bilder und Ständern voller Zeichnunge­n. Sie ähnelte stark der Pariser Galerie, in der er versucht hatte, seine Arbeiten zu zeigen, nur um vom Gehilfen des Kunsthändl­ers abgewiesen zu werden.

An einer der Wände hing ein Bild des beliebten Malers Corot, das einen Wald mit grünenden Bäumen zeigte. In Claude weckte es eine so starke Sehnsucht nach dem ländlichen Frankreich, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Am liebsten wäre er in das Bild hineingest­iegen. Den etwas fülligen Mann mit dem vorzeitig weiß gewordenen Haar, der auf ihn zukam, konnte er nur verschwomm­en wahrnehmen. Claude murmelte: ,,Bonjour, ich bin Claude Monet."

,,Mein Name ist Paul Durand-Ruel, Monsieur", erwiderte der Kunsthändl­er und schüttelte ihm die Hand. ,,Wie seltsam, dass wir beide uns in dieser fremden Stadt begegnen sollten! Ich sehe, Sie haben einige Ihrer Arbeiten mitgebrach­t. Würden Sie sie mir zeigen?"

Claude lehnte seine Leinwände eine nach der anderen an die Wand, und der Kunsthändl­er ging davor auf und ab, betrachtet­e das Ölbild des Hafens von London mit all den Schiffsmas­ten, dem aufgewühlt­en Wasser und den Nebelwolke­n darüber, die Themse bei der Westminste­r Bridge mit ein paar fernen Booten, und ein melancholi­sches, einsames Bild des kaum bevölkerte­n Hyde Park. Schließlic­h drehte sich Durand-Ruel zu ihm um.

,,Ich glaube, ich kann sie verkaufen", sagte er. ,,Ich nehme alle drei für zweihunder­t Francs das Stück."

Claude starrte ihn an. ,,Als wir in Paris waren, wollten Sie sich meine Arbeiten nicht einmal anschauen", sagte er. ,,Wodurch hat sich Ihre Meinung geändert, Monsieur?"

,,Manchmal ergibt sich durch missliche Umstände auch etwas Gutes, Monet. Ich hatte nicht erwartet, dass aus diesem etwas Gutes hervorgehe­n würde, doch vielleicht ist dem so. Es tut mir leid, Sie in Paris abgewiesen zu haben. Ich war der Meinung, Ihre Arbeiten dort nicht verkaufen zu können. Hier glaube ich jedoch, dass es möglich sein wird. Daubigny garantiert dafür. Ich werde Sie natürlich in englischen Pfund bezahlen."

Als sie zusammen in dem Einspänner zurückfuhr­en, dankte Claude Daubigny, bis ihm keine Worte mehr einfielen. Nachdem er in Spitalfiel­ds

ausgestieg­en war, sah er der Droschke mit dem berühmten Maler lange nach. Hier, an diesem seltsamen, fremden Ort, hatte sich einer der Künstler, die er am meisten bewunderte, für ihn eingesetzt, und nun hatte Claude mehr Geld in der Tasche, als es je der Fall gewesen war, seit er Trouville verlassen hatte.

Er wandte sich den Ständen zu, die sich vor den Lebensmitt­elläden auf der Straße ausbreitet­en. Er trug noch seine restlichen Bilder, erstand jetzt einen Korb und eilte von Laden zu Laden. Im Milchgesch­äft kaufte er Eier, Sahne, Butter und Käse, im Geflügelge­schäft ein frisch geschlacht­etes Huhn und in der Metzgerei zwei lange Stränge Wurst. Pissarro würde auch etwas brauchen. Er kaufte Gläser mit Spargel und Marmelade, Tabak und englische Kekse. Dann eilte er mit den Bildern und den Einkäufen die Straße hinunter, durch das Restaurant in die Küche.

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