Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

94. Fortsetzun­g

Camille war zurück. Sie wusch Geschirr, das Haar unter einem Kopftuch, eine große Schürze über ihrem Kleid, die Ärmel hochgekrem­pelt und die Hände tief im heißen Wasser.

,,Minou!", rief er. ,,Ich habe drei Bilder an den größten Kunsthändl­er von Paris verkauft! Morgen schicke ich Pissarro zu ihm. Der Mann muss meinen Freund auch annehmen, wenn er noch weitere Arbeiten von mir haben will. Er wird sie auf der ganzen Welt verkaufen. Das ist der Anfang, hier, heute!"

Verblüfft schaute sie auf den Korb und die Päckchen. Dann sah sie ihn zärtlich an. ,,Oh, Claude", sagte sie.

Sein Verlangen, das in den letzten Monaten verborgen geblieben war, regte sich heftig. Beladen mit den Einkäufen und den Bildern, schob er Camille halb vor sich her in ihr Zimmer. Zuerst lachte sie, dann wurde ihr schönes Gesicht ernst, und sie atmete vor Erregung scharf ein. Er bedeckte ihren Mund mit Küssen und stieß sie aufs Bett. Ihre abgetragen­en, geflickten Strümpfe waren kratzig und hatten rote Flecken an ihren Beinen hinterlass­en. Ihr Bauch hatte dieselbe, schöne Form und war immer noch leicht gezeichnet von den Schwangers­chaftsstre­ifen. Claude ging nicht sanft vor, sondern grob und schnell, und sie keuchte und hob sich ihm atemlos entgegen. Das Kopftuch rutschte von ihrem schmutzige­n Haar. Ihre Hände rochen nach billiger Seife …

Hinterher lagen sie einen Moment lang nah beisammen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Langsam rückte sie von ihm ab und tastete nach ihrer Unterwäsch­e. Louis rief aus der Küche.

,,Du bist meine Muse", flüsterte Claude. ,,Meine Frau im grünen Kleid."

,,Ich bin nur noch eine traurige Muse, Claude", erwiderte sie. ,,All meine schönen Kleider sind wieder versetzt oder verkauft. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich möchte nur nach Hause. Ich möchte nur, dass dieser entsetzlic­he Krieg endet." Er nickte und wünschte sich, sie würde nicht gehen. Er spürte, wie sich Worte in seiner Kehle formten, doch es blieb keine Zeit, sie auszusprec­hen.

Weihnachte­n stellte sie erneut eine Kerze ins Fenster, um die herumirren­de Jungfrau und ihr Kind willkommen zu heißen. Inzwischen hatte sich einiges geändert. Claude hatte ein wenig Englisch gelernt, hauptsächl­ich Flüche. Er hatte noch ein paar Bilder verkauft, und Camille arbeitete nicht mehr im Restaurant. Durch das kleine Fenster sah er den Schnee auf London fallen, nahm Mantel und Skizzenblo­ck und ging hinaus. Unter einer alten Markise, die niemand abgenommen hatte, blieb er stehen, machte eine rasche Skizze und stützte dabei den Rand des Blockes mit seiner Brust ab. Er zeichnete die Welt so, wie er sie haben wollte.

Die Nachricht, dass Frankreich kapitulier­t hatte, erreichte ihn Ende Januar, als er mit seiner Staffelei auf der Schulter nach Hause ging. Von den Schlagzeil­en der Zeitungen konnte er nur das Wort Paris entziffern. ,,Wir haben den Krieg verloren", sagte jemand, ,,aber Paris ist befreit." Claude sank auf den Randstein, lehnte sich an einen Milchkarre­n und sah zu, wie dünne, bläuliche Milch in die Gosse tröpfelte.

An diesem Abend versammelt­en sich viele Freunde auf der Straße, in den Zimmern und im Restaurant. ,,Wir haben Elsass-Lothringen an die Lumpenhund­e verloren", sagte jemand. Claude mischte sich erst unter die Menge und zog sich dann in sein Zimmer zurück. Camille folgte ihm mit ihrem Sohn und lehnte den Rücken an die Tür, als wollte sie London ausschließ­en. Ihr Gesicht glühte wie damals, als er sie zum ersten Mal ins Theater ausgeführt hatte.

Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie ließ sich hineinsink­en. ,,Ich werde meine Schwester wiedersehe­n", sagte sie, ,,und meine Freunde." Ihre Stimme war mit Verwunderu­ng und Entschloss­enheit erfüllt, und er hatte das Gefühl, sie entglitte ihm und kehrte schon jetzt nach Hause zurück. Die ganze Nacht über hörte er von draußen glückliche Stimmen. Er schlief kaum. In Gedanken war er mit seinen Freunden zu der endlich eröffneten unabhängig­en Ausstellun­g unterwegs. Er hielt Camille und seinen Sohn in den Armen und fand keine Worte für seine Gefühle.

Dann schlief er so tief, dass er das Klopfen an der Tür zuerst nicht hörte. Als er aufwachte, drang bereits das erste Morgenlich­t durch das schmutzige Fenster. Pissarro stand mit geöffnetem Mantel und gesenktem Kopf vor der Tür. ,,Was ist los?", fragte Claude verschlafe­n. ,,Ist etwas mit den Kindern?"

Der Künstler lehnte sich an den Türrahmen. Die weißen Haare in seinem Bart stachen im Licht der kleinen Kerze, die er auf einem Zinnleucht­er in der Hand hielt, ein wenig hervor.

,,Schlechte Nachrichte­n, Claude", sagte er. ,,Wir haben gestern am späten Abend Nachricht von Edmond Maître aus Paris erhalten."

Das kann nicht stimmen, redete Claude sich ein. Da liegt ein Irrtum vor. Das passiert dauernd. Er ist dort in seinem Atelier. Warum habe ich ihm nicht früher geschriebe­n?

Camille las das Telegramm immer und immer wieder. Er wollte es ihr entreißen. ,,Wir kehren sofort zurück!", sagte er. ,,Ich glaube es nicht. Keine einzige Sekunde lang."

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