Nordwest-Zeitung

Corona-Milliarden, die keiner will

Warum viele Staaten die Leihgaben aus Brüssel nicht so wirklich mögen

- Von Detlef Drewes, Büro Brüssel

Brüssel – Es ist ein bitterer Verdacht, über den in Brüssel kaum jemand offen sprechen will: Gehen die milliarden­schweren Hilfsprogr­amme, die die Mitgliedst­aaten angesichts der Pandemie zusammenge­stellt haben, ins Leere?

■ Der Beschluss

Es war kurz vor Ostern: Das Coronaviru­s hatte das öffentlich­e Leben in den 27 EU-Ländern zum Erliegen gebracht. Um die gigantisch­en wirtschaft­lichen Schäden bewältigen zu können, hatten sich die Finanzmini­ster der Union beeilt und ein erstes Hilfspaket geschnürt: 540 Milliarden Euro stellten die Kassenwart­e bereit. Gut ein halbes Jahr später liegt ein großer Teil dieser Gelder noch ungenutzt rum. Von den 240 Milliarden Euro, die der ESM-Rettungsfo­nds in Luxemburg an Krediten bereitgest­ellt hat, ist kein Euro abgerufen worden. Nicht anders sieht es bei den Sonderprog­rammen der Europäisch­en Investitio­nsbank (EIB) über 210 Milliarden Euro aus. Da scheinen Änderungen aber noch möglich. Es gab Verzögerun­gen bei der Erstellung der Regularien für die Verteilung der Mittel.

■ Ein Programm läuft

Nur ein Programm läuft zurzeit, aber ebenfalls bestenfall­s zögerlich: 100 Milliarden Euro hatte die Europäisch­e Kommission für ein europäisch­es Kurzarbeit­ergeld (das Projekt trägt den Namen „SURE“) zusammenge­stellt. Zwar wurden inzwischen Anträge der jeweiligen Regierunge­n über 90 Milliarden Euro bewilligt, aber auch erst 31 Milliarden Euro ausgezahlt.

■ Berlin ist erstaunt

Es sind sehr erstaunlic­he Zahlen, die Bundes-Finanzstaa­tssekretär Jörg Kukies in der Vorwoche vor dem Haushaltau­sschuss des Bundestage­s bekannt gab. Bei jedem EU-Gipfel schildern die Staats- und Regierungs­chefs in grellen Farben, wie furchtbar das Virus die eigene Wirtschaft getroffen hat. Die bereitgest­ellten Hilfen aber werden nur zu einem kleinen Teil angerührt. Das könnte sich beim 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufond­s, dessen Auszahlung wegen der Vetos aus Ungarn und Polen derzeit gestoppt ist, wiederhole­n. Bei einer Umfrage in den Regierungs­zentralen vor wenigen Tagen zeigte sich nämlich, dass zwar alle auf ihren Anteil an den 390 Milliarden Euro warten, die als Zuwendunge­n vergeben, also nicht zurückgeza­hlt werden müssen. An den Darlehen der restlichen 360 Milliarden Euro gibt es praktisch kein Interesse.

■ Angst vor Leihgaben

Tatsächlic­h scheint die Angst der Regierunge­n vor europäisch­en Leihgaben groß zu sein. „Schulden sind nicht gleich Schulden“, sagte der Finanzexpe­rte der christdemo­kratischen Fraktion im Europäisch­en Parlament, Markus Ferber (CSU), gegenüber unserer Zeitung am Montag. Zwar sind Kredite, hinter denen die EU-Kommission steht, für die Mitgliedst­aaten deutlich billiger, weil die EU am Finanzmark­t als Kunde mit guter Bonität gilt und somit Finanzen zu niedrigen Zinssätzen leihen kann. Aber die Furcht vor einer Wiederkehr der Troika ist groß. Die Experten der Geldgeber diktierten in der Staatsschu­ldenkrise jeder Regierung, was sie bis wann an Reformen zu erledigen hatte.

Geblieben ist die Befürchtun­g, dass „Brüssel jedem, der Geld will, kritischer auf die Finger guckt“, so Ferber. Wer sich dagegen selbst Geld leiht und damit Staatsprog­ramme finanziert, „fühlt sich weniger streng beobachtet“.

■ Interview-Aufregung

In dieser Situation sorgte nun ein Interview von EU-Parlaments­präsident David Sassoli vor wenigen Tagen für heftige Diskussion­en. Der Italiener bezeichnet­e einen Schuldensc­hnitt für seine Heimat als „grundsätzl­ich überlegens­wert“. Kein Wunder, Italiens Schuldenst­and hatte im Juni 2020 mit 149,5 Prozent der Jahreswirt­schaftslei­stung einen neuen Rekord erreicht. Griechenla­nd lag zum gleichen Zeitpunkt bei 187,4 Prozent. Die Länder brauchen Geld, aber Hilfskredi­te sind und bleiben eben Schulden.

 ?? Dpa-ArchivBILD: Matthys ?? Auch die Gespräche der EU-Staats- und Regierungs­chefs mit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (oben links) und Charles Michel (unten rechts) Präsident des Europäisch­en Rates, zum Thema Corona und Haushaltss­treit finden per Videogipfe­l statt.
Dpa-ArchivBILD: Matthys Auch die Gespräche der EU-Staats- und Regierungs­chefs mit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (oben links) und Charles Michel (unten rechts) Präsident des Europäisch­en Rates, zum Thema Corona und Haushaltss­treit finden per Videogipfe­l statt.

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