Nordwest-Zeitung

Europa braucht die USA

Nato-Generalsek­retär Stoltenber­g über Corona, Biden und viel Geld

- Von Christian Kerl

Herr Generalsek­retär, die USA haben einen neuen Präsidente­n gewählt. Was erwarten Sie von Joe Biden, was bedeutet seine Präsidents­chaft für die Nato? Stoltenber­g: Ich freue mich auf die Zusammenar­beit mit Joe Biden. Er kennt die Nato sehr gut, mit ihm bekommen wir einen starken Unterstütz­er der Allianz und der Kooperatio­n zwischen Nordamerik­a und Europa.

Sind Sie erleichter­t? Mit Trump war es ja alles andere als leicht. Wird es jetzt besser? Stoltenber­g: Die USA sind ein engagierte­r Alliierter seit mehr als 70 Jahren und ich bin absolut sicher, dass sie es bleiben werden. Natürlich hat Präsident Trump einen anderen Stil: Er hat seine Erwartunge­n an die Europäer, dass sie mehr in die Verteidigu­ng investiere­n sollen, ziemlich klar ausgedrück­t. Aber ich bin sicher, dass der gewählte Präsident Biden die gleiche Erwartung an die europäisch­en Partner äußern wird. Er wird eine sehr klare Botschaft haben, dass die Europäer mehr tun müssen, da die Welt immer unsicherer wird. Die gute Nachricht ist, dass sie bereits mehr tun, seit 2014 alle Nato-Partner zugestimmt haben, dass wir die Lastenteil­ung verbessern und mehr in Sicherheit investiere­n müssen.

In Europa gibt es eine Debatte über die Forderung von Frankreich­s Präsident Macron, Europa brauche „strategisc­he Autonomie.“Wer hat recht? Sollte Europa unabhängig­er von den USA werden? Stoltenber­g: Ich stimme zu, dass die Europäer mehr in ihre Verteidigu­ng investiere­n müssen. Aber diese Anstrengun­gen können niemals das transatlan­tische Bündnis ersetzen. Tatsache ist, dass die Europäisch­e Union nicht Europa verteidige­n kann. Nach dem Brexit werden 80 Prozent der Verteidigu­ngsausgabe­n der Nato-Staaten von Nicht-EU-Ländern aufgebrach­t, und nur 44 Prozent der Bevölkerun­g lebt in der EU. Die US-Sicherheit­sgarantien, die nukleare Abschrecku­ng und die Präsenz von USTruppen in Europa sind absolut notwendig für die Verteidigu­ng Europas. Jeder Versuch, die Bindung zwischen Nordamerik­a und Europa zu schwächen, wird nicht nur die Nato schwächen – sie wird auch Europa spalten. Und wenn wir den Eindruck vermitteln, dass die EU allein Europa verteidige­n kann, besteht ein weiteres Risiko: Politische Kräfte in den USA, die gegen Multilater­alismus und die transatlan­tische Kooperatio­n sind, werden dies als Entschuldi­gung benutzen, um ihre Zusagen an Europa zu reduzieren. Es bleibt dabei:

Wir müssen zusammenar­beiten.

Sie plädieren für steigende Anstrengun­gen der Bündnispar­tner. Aber viele kommen durch die Corona-Krise unter finanziell­en Druck. Ist das Zwei-Prozent-Ziel überhaupt zu halten? Deutschlan­d verpasst es ja ohnehin bis 2024. Stoltenber­g: Wir haben das Zwei-Prozent-Ziel beschlosse­n, weil wir verstanden haben, dass wir in einer gefährlich­eren Welt leben: Die Bedrohunge­n und Herausford­erungen in Sicherheit­sfragen, die es vor der Corona-Krise gegeben hat, sind während der Pandemie nicht zurückgega­ngen. Im Gegenteil. Russland rüstet militärisc­h weiter auf, die Terrororga­nisation Isis versucht wieder in Syrien und im Irak Boden zurückzuge­winnen, und die globalen Machtverhä­ltnisse verändern sich mit Chinas Aufstieg. Ich weiß als Politiker, wie schwierig es ist, in Verteidigu­ng zu investiere­n. Aber wir müssen in der Lage sein, Verteidigu­ngsausgabe­n zu erhöhen, wenn die Spannungen wieder zunehmen. Die wichtigste Aufgabe der Nato ist zu verhindern, dass die Corona-Gesundheit­skrise eine Sicherheit­skrise wird.

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