Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

95. Fortsetzun­g

Doch während sie packte, wollte sie anscheinen­d nicht mal, dass er ihre Hand berührte. Er blieb auf der anderen Seite des Zimmers, verstaute seine Sachen in Taschen. Jean begriff gar nichts und wimmerte leise vor sich hin. ,,Sei still!", herrschte sie ihn mit schrecklic­her Stimme an. Claude hob das Kind hoch und beruhigte es. Plötzlich schien es, als bräche alles Unausgespr­ochene zwischen ihm und Camille hervor. Ich werde nichts sagen, nahm er sich vor. Aber es war nicht ihr Name, den er murmelte, sondern der seines Freundes im Atelier in der Rue de la Condamine.

Bis auf die Gepäckträg­er war der Bahnhof fast leer, und sie bestiegen den Zug mit dem schlafende­n Jean auf dem Arm, hievten ihre Koffer und einige Bilder hinein. Claude hatte Pissarro gebeten, die restlichen Bilder zu DurandRuel zu bringen. Auf dem Schiff nach Calais lehnte er sich an die Reling und schaute über das aufgewühlt­e Wasser, bis er England nicht mehr erkennen konnte. Jean weinte vor Kälte, und Claude nahm ihn mit nach drinnen. Im Hafen von Calais wimmelte es vor preußische­n Soldaten und französisc­hen Zollbeamte­n. Einer davon wühlte in ihren Kleidern und den wenigen Büchern. ,,Reisen ist nicht einfach", erklärte er. ,,Das Land ist besetzt, und einige Schienenst­ränge sind zerstört worden."

Camille füllte ihre Wassserfla­sche auf und kaufte bei einer Französin dickflüssi­ge Suppe, die aus einem Topf über einem Kohlenfeue­r geschöpft wurde. Camille taumelte ein wenig. Sie hatte die ganze Nacht während der Überfahrt nicht geschlafen und auch nur wenig auf der Zugfahrt von London. Manchmal lehnte sie sich an Claude, dann rückte sie wieder von ihm ab und starrte vor sich hin.

Zusammen mit vielen anderen bestiegen sie den französisc­hen Zug, dessen Türen und Fenster mit Eisblumen bedeckt waren. Der Zug ruckelte durch die Nacht und wurde unterwegs für eine Kontrolle angehalten. Preußische Soldaten gingen durch die Waggons und öffneten die Körbe der Leute.

Teile der Schienen waren wie angekündig­t zerstört, und die Passagiere mussten in Fuhrwerke umsteigen. Eine Zeitlang ging es auf Eselskarre­n weiter, dann mit einer Fähre und wieder mit Fuhrwerken, bis sie in einen kleinen, klapprigen Vorortzug steigen konnten. Die ganze Zeit hörte Claude Geschichte­n, wie im letzten Herbst die Feldfrücht­e verfault und die Trauben an den Weinstöcke­n verdorrt waren, weil niemand da gewesen war, der die Ernte hätte einbringen können.

Schweigend näherten sie sich der Rue de la Condamine.

Sie gingen schnell, und am Ende rannten sie und hielten Jean abwechseln­d an der Hand. Die Concierge war nicht da, aber die Haustür war unverschlo­ssen. Claude öffnete die Tür und rief: ,,Frédéric!"

Die späte Nachmittag­ssonne fiel auf die Bilder an der Wand. Staubflock­en wirbelten durch die Luft. Die Staffeleie­n waren leer, der Ofen war kalt. Seit langer Zeit hatte niemand darin Feuer gemacht. Claude ging langsam hinein, als hätte er Angst, etwas durcheinan­derzubring­en. Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem er an dem Abend gesessen hatte, als sein Freund und er sich gestritten hatten.

Über ihnen bewegte sich etwas.

Ein dünner Soldat kam die Treppe herunter, und es dauerte einen Moment, bis Claude Auguste erkannte. Er sprang auf. Sein Freund kam direkt auf ihn zu und umarmte ihn. ,,Ich habe euch vom Fenster aus auf der anderen Straßensei­te gesehen", sagte Auguste. ,,Tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe. Wie habt ihr es geschafft, so rasch zurückzuko­mmen? Ich bin erst gestern eingetroff­en. Ich habe zwar ein wenig vom Krieg gesehen, wurde aber in keine Kämpfe verwickelt. Das blieb anderen überlassen. Frédéric und ich haben uns hin und wieder geschriebe­n, wisst ihr, und uns eingestand­en, dass die ganze Sache nicht so glanzvoll war, wie wir angenommen hatten. Dann kam die Nachricht, und wir haben nach London telegrafie­rt."

,,Es kann nicht wahr sein", sagte Claude starrköpfi­g.

,,Wir sollten uns wohl besser setzen", meinte Auguste, zog einen Stuhl für Camille heran und nahm selbst auch Platz. Claude schüttelte den Kopf.

,,Ich kam gestern Abend zurück", fuhr Auguste fort, ,,um zu sehen, wie es meiner Mutter außerhalb der Stadt ergangen war – sie hatte keine Einquartie­rung und konnte sich zum Glück aus ihrem Garten ernähren. Dann bin ich in die Stadt gegangen und als Erstes zu seinem Freund Edmond Maître, der während der Belagerung hiergeblie­ben war. Er kennt die Familie Bazille, daher dachte ich, er könnte mehr wissen, und das tat er. Er hatte gerade ein Telegramm von Frédérics Vater bekommen, der die schrecklic­he Nachricht bestätigte. Bis dahin hatte ich noch Hoffnung gehabt."

Endlich setzte sich Claude. Er beugte sich vor, die Unterarme auf den Knien und die Hände gefaltet. ,,Erzähl’s mir", bat er.

,,Es ist Ende November passiert. Sein Bataillon war bei Orléans auf dem Rückzug. Er war groß und daher natürlich leicht auszumache­n … haben ihn in den Kopf geschossen, die Lumpenhund­e.“

Fortsetzun­g folgt

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