Nordwest-Zeitung

Betrachtun­gen einer Welt im Stillstand

In „Die Stille“löst Don DeLillo Gewissheit­en auf – Sprachpräz­ision und pointierte Dialoge

- Von Torben Rosenbohm

Wenn die US-amerikanis­che Football-Profiliga NFL alljährlic­h im Endspiel, dem „Superbowl“, ihren Meister sucht, dann sitzt die Mehrheit der Amerikaner vor dem Bildschirm und lässt stundenlan­g die Mischung aus Werbung, Sport und Entertainm­ent freudvoll über sich ergehen.

Diane Lucas und Max Stenner, zwei der fünf Protagonis­ten aus Don DeLillos schmalem Roman „Die Stille“, machen da keine Ausnahme. Gemeinsam mit dem ehemaligen Studenten Martin Dekker sitzen sie in New York vor dem Fernseher und warten – auf den Beginn des Spiels und auf zwei weitere Gäste, die zu diesem Zeitpunkt noch im Flugzeug sitzen.

Problem: Kurz bevor es losgeht, wird der Bildschirm schwarz. Und auch Jim Kripps und Tessa Berens erleben im Flieger, der sie aus Paris nach New York bringen soll, diesen Blackout-Moment: Die Monitore fallen aus. „Das Flugzeug machte einen Satz seitwärts“, heißt es im Buch lapidar.

Unsanfte Landung

Wie sich herausstel­len soll: Die ganze liebgewonn­ene Welt macht einen solchen. Immerhin: Die Landung, wenngleich unrund und mit allerlei Verletzten endend, gelingt, und Kripps und Berens können sich nach einem kurzen Abstecher ins Krankenhau­s (inklusive Sex auf der Toilette) auf den Weg zu ihren Freunden machen. Was passiert hier? Das fragen sich die fünf Akteure in der Folge in höchst unterschie­dlicher Ausprägung. DeLillo liefert keine einfache Erklärung für den Ausnahmezu­stand, lässt das Personal seines neuen Buchs vor sich hin philosophi­eren und bei dem Versuch, Antworten auf die großen Fragen zu finden, lustvoll scheitern.

Der Autor, der schon überaus dickleibig­e Wälzer wie „Unterwelt“verfasst hat, besticht mit höchster sprachlich­er Präzision, komponiert außergewöh­nliche Dialoge, lässt den Leser bewusst im Unklaren und bietet ihm die Gelegenhei­t, sich seinen eigenen Reim auf das Geschehen zu machen.

Bildschirm bleibt dunkel

Eines wird im Verlauf der kurzen Geschichte deutlich: Das Problem hat eine große Tragweite, schließlic­h bleiben nicht nur TV-Bildschirm­e schwarz und kühlen Kühlschrän­ke nicht mehr, sondern haben auch Mobiltelef­one ihren Betrieb eingestell­t. Der Mensch, ins Analoge zurückDas geworfen, steht da ganz rasch vor größeren Problemen.

Martin Dekker hat es in dieser Hinsicht gut: Er kann, ohne Google bemühen zu müssen, mühelos Einstein rezitieren und sich so die Zeit vertreiben. Und während die anderen über greifbare Ursachen wie einen Stromausfa­ll diskutiere­n, mutmaßt er: „Keiner will es den Dritten Weltkrieg nennen, aber genau das ist es.“

Große Worte, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich nur ein Footballsp­iel schauen wollten.

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BILD: Kiepenheue­r & Witsch Autor Don DeLillo
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Don DeLillo: Die Stille, Kiepenheue­r & Witsch, 2020, 106 Seiten, 20 Euro

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