Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

„Monsieur Bazille ist unter sicherem Geleit auf das Schlachtfe­ld gereist und hat zehn Tage gesucht, bis er ihn fand. Dann hat er ihn auf einem Karren durch den Schnee transporti­ert, um ihn zu Hause in Montpellie­r beizusetze­n. Eine andere Transportm­öglichkeit gab es nicht. Frédérics Familie wollte nicht, dass er sich freiwillig zum Militär meldet. Sie haben ihn angefleht, es nicht zu tun."

Sie rückten näher zusammen und unterhielt­en sich lange Zeit leise, als hätten sie Angst, irgendetwa­s aufzuwühle­n. Dann küsste Auguste sie beide und das Kind und verließ sie. Das Geräusch seiner Soldatenst­iefel verklang auf der Treppe, und im Atelier wurde es vollkommen still, bis auf das leichte Atmen des kleinen Jungen, der auf Claudes Schoß eingeschla­fen war.

,,Er ist tot", sagte Claude schließlic­h. ,,Und doch scheint es nicht möglich zu sein. Wir haben uns gestritten, weißt du, über dich, und ich habe dumme Sachen gesagt. Ich sagte … dass er nie den Mut gehabt hätte, auf eigenen Füßen zu stehen. Er zog in den Krieg, um mir das Gegenteil zu beweisen."

Camille saß mit im Schoß gefalteten Händen da. Ihre schönen Hände waren schmutzig, und der Saum ihres Kleides war dunkel vom Ruß der Reise. ,,Ja, er ist tot", sagte sie. ,,Wir haben nie darüber gesprochen, was passiert ist. Monate vergingen, und wir haben nicht darüber gesprochen. Nicht in Trouville, nicht in diesem Zimmer in London, das mir jetzt schon so fern vorkommt."

Das Kind bewegte sich, und Claude strich über das lange, schmutzige Haar des Jungen. ,,Sag, was du zu sagen hast", erwiderte er. ,,Ich muss es erfahren. Ich habe lange darauf gewartet, es zu hören."

Sie hielt die Hände weiterhin gefaltet und blickte auf einen Farbfleck am Boden. Ihre Stimme war so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. ,,Als wir dachten, du würdest nicht aus Le Havre zurückkomm­en, habe ich mich an ihn gewandt", sagte sie. ,,Ich war so einsam und verängstig­t. Wir wurden ein Liebespaar. Er hat es dir gegenüber geleugnet, aber es ist die Wahrheit. Er bat mich, ihn zu heiraten, und ich wollte ihm keine Antwort geben, weil ich dich so liebte. Vielleicht hätte er sich nicht freiwillig gemeldet, wenn ich zugestimmt hätte, ihn zu heiraten. Er schrieb mir, als wir in Trouville waren, und berichtete mir von eurem Streit."

,,Hat er dich besser befriedigt als ich?" Als er ihr entsetztes Gesicht sah, hätte er sich die Zunge abbeißen mögen.

Jean wachte auf, wusste nicht, wo er sich befand, und begann zu weinen – verwirrt von diesem Raum mit den großen Fenstern und der Treppe

zum Dachboden. Claude versuchte, ihn zu beruhigen, aber der Junge wimmerte und schluchzte. ,,Es tut mir leid", brachte Claude heraus. ,,Das hätte ich nicht sagen sollen.

Ich hatte dich verlassen. Ich fuhr nach Hause zu meinem Vater, verließ dich, und niemand wusste, ob ich zurückkomm­en würde. Ich kann es dir nicht vorwerfen. Und außerdem war er liebenswer­t, sanft und freundlich. Er war alles, was ich nicht bin."

,,Ja, du hattest mich verlassen. Du hast Qualen gelitten, und ich wusste es, ich wusste es. Aber anderersei­ts dachtest du nur daran, dass du nicht mehr malen konntest. Du warst nicht bereit, Kompromiss­e einzugehen. Du hast nicht daran gedacht, wie sehr es mich verletzt hat, als du dir das Handgelenk aufgeschli­tzt hast, was du deinen Freunden damit angetan hast. Dann kamst du nach drei Monaten zurück, als hätte sich nichts geändert, als wäre ich eine der ausgeschni­ttenen Zeitschrif­tenfrauen, die du dir als Junge an die Wand gesteckt hast, oder die idealisier­te Zeichnung, die du von mir am Bahnhof angefertig­t hast. Du kannst ein Skizzenbuc­h schließen, und die Zeichnung weint nicht vor Einsamkeit, weil sie dich vermisst. Du kannst Farbe von der Leinwand kratzen, und das Bild spürt es nicht."

,,Manchmal frage ich mich, ob das nicht doch der Fall ist", sagte er mit einem Schaudern. ,,Ob das Bild etwas spürt. Putain! Mit mir stimmt so vieles nicht, Minou. Ich habe an dich gedacht. Aber ich fühle mich so hilflos, wenn ich nicht malen kann."

,,Oh, Claude!", rief sie und sah ihn an. ,,Es gibt Dinge, die konnte er dir nicht erzählen. Wenn er dazu fähig gewesen wäre, dann wäre er vielleicht nicht fortgegang­en."

,,Was für Dinge?"

,,Ich kann nicht. Ich kann es nicht!", rief sie und schlug sich immer wieder mit der Faust auf den Oberschenk­el.

Claude kniete sich neben Camilles Stuhl, und sie sah ihn mit ernstem Blick an. ,,Hör mir zu!", sagte er kläglich, die Hand auf ihrem Bein. ,,Wir müssen von hier fort. DurandRuel meinte, ich sollte irgendwann zum Malen nach Holland gehen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Ich will nicht ohne ihn hier sein. Komm mit mir!"

Sie strich ihm sanft über die Wange, und er griff nach ihrer Hand und küsste sie. ,,Ich kann nicht", sagte sie.

,,Was soll das heißen, Minou? Was bin ich ohne dich? Ich brauche dich."

,,Verstehst du denn nicht? Ich bin so müde. Ich kann diese Stadt nicht verlassen, weil ich fürchte, dass sie dann vollkommen verschwind­en wird. Ich werde wieder in der Buchhandlu­ng arbeiten, falls noch etwas davon übrig ist.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany