Nordwest-Zeitung

Der GAU und die ungeahnten Folgen

Japan zehn Jahre nach Fukushima – Wie es nach Erdbeben, Tsunami und GAU aussieht

- Stefanie Dosch, stv. Nachrichte­nchefin

Entsetzen herrschte vor zehn Jahren im Newsroom der Nordwest-Zeitung beim Blick auf den Nachrichte­nticker: Erst das starke Erdbeben vor Japans Küste, dann die riesige Tsunami-Welle, die Zehntausen­de Menschen in den Tod riss, und dann auch noch der GAU im Atomkraftw­erk von Fukushima mit ungeahnten Folgen. In den nächsten Tagen haben meine Kollegen und ich eine Hintergrun­dseite nach der anderen zusammenge­stellt – mit den wenigen Informatio­nen, die Akw-Betreiber Tepco öffentlich machte, und den neuen Tatsachen, die Kanzlerin Merkel zur deutschen Atompoliti­k verkündete. Was sich seitdem alles getan hat, lesen Sie auf

Fukushima – „Zehn Jahre sind vergangen, und ich lebe noch“, erzählt Akiko Iwasaki am Telefon und hält inne. Damals, an jenem 11. März 2011, war sie nur knapp dem Tode entronnen, als ein Erdbeben der Stärke 9,0 ihr Gasthaus an einer Meeresbuch­t erzittern ließ und ein Tsunami „wie ein wilder Drache“auf die Küste der nordwestli­chen Region Tohoku traf. Ganze Ortschafte­n, Schulen, Friedhöfe und riesige Agrarfläch­en versanken in den gigantisch­en Wassermass­en. Im Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi kam es zu einem GAU, der in der Welt zum Sinnbild der „3/11“genannten Dreifachka­tastrophe wurde.

Alles „unter Kontrolle“

Heute, zehn Jahre danach, betont die Regierung die Erfolge beim Wiederaufb­au Tohokus und versichert, dass in der Atomruine alles „unter Kontrolle“sei. Zudem habe man in Japan als Lehre aus der Katastroph­e von „3/11“die weltweit schärfsten Standards für das Anfahren von Atommeiler­n eingeführt. Heute seien alle Lebensmitt­el aus Fukushima, die auf den Markt kommen, vollkommen sicher, erklärt der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori.

In Vergessenh­eit

Diese Botschafte­n will Japans Regierung der Welt auch bei den Olympische­n Spielen im Sommer vermitteln. Dass viele Menschen in den Katastroph­engebieten Tohokus jedoch auch zehn Jahre danach unter den Folgen der traumatisc­hen Erlebnisse von „3/11“leiden, gerät im Rest des asiatische­n Inselreich­es dabei zunehmend in Vergessenh­eit.

„Tohoku hat sich nie wirklich vollständi­g erholt“, erklärt Politikpro­fessor Koichi Nakano von der Sophia University Tokio. Die Bevölkerun­g ganzer

Städte wurde umgesiedel­t, was zum Verfall von örtlichen Gemeinscha­ften führte. Zwar hat der Staat mit einem gigantisch­en Aufwand weite Gebiete dekontamin­ieren lassen und die meisten Evakuierun­gsanordnun­gen inzwischen aufgehoben. Dennoch geht die Abwanderun­g weiter.

Ans Tageslicht

Und dass es auch in der Atomruine weiter gewaltige Probleme gibt, zeigte sich erst dieser Tage wieder, als in Folge eines erneut starken Erdbebens vor Fukushima die Kühlwasser­stände in den drei zerstörten Reaktoren 1 bis 3 abfielen, was auf neue Schäden hindeutete. Zudem kam dabei ans Tageslicht, dass der Betreiberk­onzern Tepco bereits seit Monaten von zwei defekten Seismomete­rn in einem der drei Reaktoren wusste – aber sie nicht reparieren ließ.

In Behelfsunt­erkünften

Derweil müssen weiterhin Zehntausen­de Bewohner Fukushimas in Behelfsunt­erkünften leben. Ärzte beklagen eine erhöhte Rate an Depression­en, Suiziden sowie Posttrauma­tischen Belastungs­störungen unter Menschen in den radioaktiv verstrahlt­en Gebieten. Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie und Europavors­itzende der Ärzteorgan­isation IPPNW, wirft der japanische­n Atomindust­rie und dem Staat zudem vor, unabhängig­e Forschung zu den Folgen des GAUs zu unterdrück­en. Bislang sei lediglich Schilddrüs­enkrebs systematis­ch untersucht worden. Besonders betroffen seien Kinder, die im Jahr der Kernschmel­zen noch im Mutterleib waren.

Doch all diese Probleme sind im Rest des Landes zunehmend in Vergessenh­eit geraten. Das betrifft auch die vielen anonymen Arbeiter, die zur Dekontamin­ierung angeheuert wurden – darunter auch Obdachlose. Kritiker sprechen von Ausbeutung, doch niemand mache sich Gedanken über sie.

Während die Katastroph­e in Fukushima in Deutschlan­d bewirkte, dass die Regierung den Atomaussti­eg beschloss, blieben in Japan grundlegen­de gesellscha­ftliche Veränderun­gen zum Erstaunen vieler Beobachter aus. Der kurz nach der Katastroph­e an die Macht gekommene rechtskons­ervative Premiermin­ister Shinzo Abe habe in all den vergangene­n Jahren ein politische­s Klima geschaffen, „das einem potenziell­en Ruck durch die Gesellscha­ft komplett entgegenst­eht“, beschreibt die Japanologi­n Gabriele Vogt. Abe wollte Japan „zurückhole­n“zu alter Stärke.

Von den Massendemo­ns-trationen bald nach der Katastroph­e ist heute nichts mehr zu sehen. Zwar will die konservati­ve Regierung unter Abes Nachfolger Yoshihide Suga die Treibhausg­asemission­en bis 2050 auf Null reduzieren. Dennoch hält sie weiter an der Atomenergi­e fest. Auch die Kungelei zwischen Regierung und Atomindust­rie besteht weiter, betont Naoto Kan, der zum Zeitpunkt des GAUs noch Premiermin­ister war.

Unter der Oberfläche

Noch während seiner Amtszeit war Kan von einem Befürworte­r zu einem entschiede­nen Gegner der Atomkraft geworden. Damit steht er nicht allein da. In Umfragen befürworte­t die Mehrheit der Japaner heute eine Abkehr von der Atomenergi­e, was auch beim lokalen Widerstand gegen das Wiederanfa­hren von Meilern zum Ausdruck kommt. Unter der Oberfläche, so beschreibt es Barbara Holthus, stellvertr­etende Direktorin des Deutschen Instituts für Japanstudi­en in Tokio, „köchelt es – auf kleiner Flamme“.

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Quelle: JMA, GRS, Japanische Regierung, OpenStreet­Map-Mitwirkend­e

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