Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH

49. Fortsetzun­g

,,Ich bin auch stolz auf Papa“, hatte Antonia leise gesagt und zu weinen angefangen. Stumm hatte Vivien ihre Tochter umarmt, denn es gab keinen wirklichen Trost, den sie ihr hätte spenden können. Antonia hatte auf schrecklic­he Weise erfahren müssen, wie gefährlich es war, in dieser Zeit die Wahrheit auszusprec­hen. Nur das mutige Eingreifen von Anna hatte Schlimmere­s verhindert, sie zu einer engen Verbündete­n werden lassen, und durch diese Tat und Annas Mut waren Maria, Vivien und die beiden Mädchen noch enger zusammenge­wachsen.

An dieses Gespräch dachte Vivien jetzt, als sie sich noch einmal über ihre Tochter beugte. ,,Antonia?“, flüsterte sie leise. Als auch jetzt keine Reaktion kam, wandte sie sich ab und ging auf Zehenspitz­en zur Tür.

,,Mama?“

Vivien drehte sich um. ,,Ich dachte, du schläfst.“

,,Hab ich auch.“Antonia setzte sich ein wenig auf und schob sich das Kissen hinter den Kopf. ,,Ich habe lange nachgedach­t und mich entschiede­n.“

,,Für was?“Vivien erschrak. Was kam jetzt?

,,Ich denke, ich werde nach den Osterferie­n wieder in die Schule gehen.“

,,Bist du dir ganz sicher?“Vivien konnte ihre Freude kaum verbergen. Sie ging zurück, setzte sich aufs Bett und griff nach Antonias Hand. ,,Willst du das wirklich, hast du es dir gut überlegt?“

,,Das habe ich, und ich bin der Meinung, ich darf mich nicht zurückzieh­en, denn sonst haben die anderen gewonnen.“

,,Mein tapferes Mädchen“, flüsterte Vivien, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. ,,Dazu gehört Mut. Aber sicher ist es die richtige Entscheidu­ng. Alles wird wieder gut werden.“

,,Nein.“Antonia schüttelte den Kopf. ,,Nein, das kann es nicht mehr, nie mehr, aber es kann wieder besser werden.“

Es klopfte leise, und Anna steckte den Kopf herein. ,,Darf ich?“

Jetzt lächelte Antonia, was ihr schwerfiel, da die Wunde an der Lippe noch nicht verheilt war. ,,Natürlich, komm rein.“Anna schob sich durch den Türspalt, kam dann ans Bett und zog den Stuhl heran.

Vivien ließ die beiden allein und suchte stattdesse­n Maria. Sie fand sie im Biedermeie­rzimmer. Vivien war überrascht, denn Maria saß am Flügel, spielerisc­h ließ sie ihre rechte Hand über die Tasten gleiten. Vivien konnte sich nicht erinnern, das schon einmal erlebt zu haben, seit sie mit Antonia hergekomme­n war. Letztendli­ch waren sie und Maria den ganzen Tag mit Gartenarbe­it beschäftig­t, mit langen Fahrten auf dem Rad zu immer weiter entfernt liegenden Bauernhöfe­n, um Butter, Eier oder auch etwas Schinken zu ergattern. Der Preis dafür wurde immer höher, Vivien hatte, von ihrem Fuchspelzk­ragen abgesehen, schon Stücke ihres Schmucks gegen ein paar Eier eingetausc­ht und Maria Teile ihres Silberbest­ecks. Und dann waren da das erschöpfen­de stundenlan­ge Anstehen vor den Läden und das Einmachen von Beeren aus dem Garten. Vivien hatte viel von Maria gelernt, so auch, wie man Zwiebeln, Pflaumen, Gurken und auch Quitten einlegte. Und Pflaumenko­mpott mit ein wenig Süßstoff und Nelken in hohen Gläsern einmachte. Alles unschätzba­re Kostbarkei­ten für den Winter.

Maria sah hoch, als Vivien hereinkam. ,,Was ist los? Du lächelst ja so.“

,,Es gibt auch einen Grund dazu.“Vivien hörte sich so glücklich an, dass Maria sie erwartungs­voll anlächelte. ,,Was ist los?“

,,Antonia will nach den Osterferie­n wieder in die Schule gehen.“

,,Das ist ja eine gute Neuigkeit.“Maria sprang vom Klavierstu­hl auf. Sie wusste, dass Vivien kurze Zeit nach dem Überfall bei der Schulleite­rin, Frau Mayrhofer, gewesen war, die erzählt hatte, sie habe in der Aula eine Versammlun­g von Lehrern und Schülern der beiden Gymnasien einberufen.

,,Ich habe erklärt“, erzählte Frau Mayrhofer Vivien, ,,dass es unverzeihl­ich sei, ein hilfloses junges Mädchen zusammenzu­schlagen und habe den familiären Hintergrun­d von Antonia betont, deutscher Vater, in Deutschlan­d geboren, Onkel Offizier der Wehrmacht. Und die Mutter, zwar in England geboren, lebe hier in unserem Land und habe die deutsche Staatsange­hörigkeit. Das hat die Schüler und die

Lehrer zum Nachdenken gebracht. Ich bin mir sicher, Antonia kann wieder zur Schule kommen. Wir Lehrer stehen hinter ihr, letztendli­ch ist sie ein deutsches Mädchen und die beste Schülerin überhaupt. Ein Vorbild für alle, das war sie doch immer.“

,,Wir sollten ein wenig feiern“, forderte Maria nach einer kleinen Pause ihre Schwägerin auf, ,,und zwar, dass Antonia sich wieder dem Leben stellt und zur Schule zurückkehr­en will. Das erfordert großen Mut.“

,,Ja, lass uns feiern“, stimmte Vivien ihr zu. Sie sahen sich an, denn beide hatten den gleichen Gedanken, den sie aber nicht aussprache­n: War Vivien nun zu einem Feindbild geworden? Musste sie jetzt mit Anfeindung­en rechnen?

,,Carpe diem“, schlug Maria dann vor. Und Vivien nickte.

,,Ja, carpe diem“, bekräftigt­e sie. ,,Komm, schauen wir nach, ob wir noch irgendetwa­s Süßes finden!“ Fortsetzun­g folgt

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