Ein Blick 30 Jahre in die Zukunft
Am Sonntag hat der deutsche Südwesten zwei neue Landtage gewählt, am Mittwoch sind unsere niederländischen Nachbarn aufgerufen, die Abgeordneten ihrer Tweede Kamer („Zweite Kammer“, die nach einem fast reinen Proporzsystem gewählte wichtigere der beiden niederländischen Parlamentskammern) zu bestimmen. Wenn die Demoskopen nicht völlig danebenliegen, wird der Urnengang zu einem Triumph für den amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte.
Rutte, der zurzeit in dritter Amtszeit einem Vielparteienkabinett aus seiner rechtsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), den Christdemokraten des CDA, den linksliberalen Democraten 66 und der fundamental-calvinistischen ChristenUnie vorsteht, war seit dem 15. Januar nur noch geschäftsführend im Amt, nachdem mehrere Regierungsmitglieder in der Toeslagenaffaire, dem „Kindergeldskandal“, mit Vorwürfen konfrontiert worden waren, die Behörden hätten im Kampf gegen Sozialbetrug womöglich ausländische Kindergeldbezieher diskriminiert.
Der Popularität des Regierungschefs konnte die Affäre nichts anhaben, zumal er selbst nicht inkriminiert ist. In den Umfragen steuert seine VVD auf einen fulminanten Wahlsieg zu: An die 40 der insgesamt 150 Sitze prophezeien ihr die Wahlforscher, das wären knapp 30 Prozent, deutlich mehr als die 21,3 Prozent, die Ruttes Partei 2017 geholt hatte.
Leichte Verluste drohen dagegen seinen christdemokratischen, schwere seinen linksliberalen Partnern. Das Muster ist bekannt: Rutte wird für die soliden Wirtschaftsdaten belohnt, die mitregierenden Parteien für alles abgestraft, was nicht so gut gelaufen ist.
Wenn die Stimmen ausgezählt sind, wird sich zeigen, dass ein überzeugendes Personalangebot, gepaart mit hoher Sachkompetenz, die Trumpfkarten sind, die an der Urne stechen. Moderne Wähler haben sich von Traditionen weitgehend
emanzipiert. Milieus, die teilweise über hundert Jahre Bestand hatten, wie das ländlich-katholische oder das gewerkschaftliche Arbeitnehmermilieu, schmelzen dahin wie Schnee in der Sonne. Folge ist ein fragmentiertes und hochvolatiles Parteiensystem mit zur Zeit 13 Parlamentsparteien, in dem Ruttes VVD mit nicht einmal einem Drittel der Stimmen schon ein Gigant ist.
Die neue Unübersichtlichkeit hängt nur zum Teil damit zusammen, dass die Wähler von 2021 rationaler agieren als ihre Eltern und Großeltern. Kompetenz ist heute wichtiger als Tradition, aber dasselbe gilt für Charisma.
Die Niederlande sind Deutschland in diesem Auflösungsprozess rund 30 Jahre voraus. Populisten wie Pim Fortuyn oder Geert Wilders fahren dort seit Jahrzehnten Traumwerte ein, und die Arbeiterpartei PvdA ist von ihnen förmlich pulverisiert worden. Bei rund acht Prozent sehen die Demoskopen die einst stolze Partei am Mittwoch. Doch selbst Sozialdemokraten können in den Niederlanden noch siegen, wenn sie die richtige Statur haben: Ahmed Aboutaleb ist Pragmatiker, Sozi und wird seit 2008 als Bürgermeister von Rotterdam regelmäßig mit triumphalen Ergebnissen wiedergewählt. Ein Kümmerer, dem die unterschiedlichsten urbanen Stämme vertrauen.
Die Landtagswahlen vom Sonntag haben gezeigt, dass auch in Deutschland die Erosion der Milieus rasant voranschreitet. Malu Dreyer holte als Kandidatin in der einstigen CDU-Hochburg Trier 47,7 Prozent, Kretschmanns Grüne verwiesen im ländlich-katholischen Oberschwaben die ehedem unschlagbare CDU auf die Plätze.
Die CDU hatte mit unattraktiven Kandidaten, der Maskenaffäre und ihrem vermasselten Corona-Management gleich mehrere Klötze am Bein, aber es zeigte sich vor allem, dass sie auf Milieus nicht länger zählen kann, die ihr früher durch dick und dünn die Treue hielten. Die Volkspartei alten Typs, der es gelingt, Koalitionen zwischen fest verwurzelten sozialmoralischen Milieus zu schmieden, ist ein Auslaufmodell. Wer nicht mit Kompetenz und Personal punkten kann, wird künftig das Nachsehen auf dem kompetitiver werdenden politischen Marktplatz haben, so wie in den Niederlanden. Für die Union dürfte sich die Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“, in der sie es in 16 Merkel-Jahren zur Meisterschaft gebracht hat, noch bitter rächen: Sie hat mit ihrem inhaltlichen Profil ihre Charakterköpfe und ihren Markenkern als Bewahrerin des Bewahrenswerten gleich mit demobilisiert. Warum also sollte man sie wählen?