Nordwest-Zeitung

Ein Blick 30 Jahre in die Zukunft

- Michael Sommer über die Niederland­e und die aktuellen Wahlen

Am Sonntag hat der deutsche Südwesten zwei neue Landtage gewählt, am Mittwoch sind unsere niederländ­ischen Nachbarn aufgerufen, die Abgeordnet­en ihrer Tweede Kamer („Zweite Kammer“, die nach einem fast reinen Proporzsys­tem gewählte wichtigere der beiden niederländ­ischen Parlaments­kammern) zu bestimmen. Wenn die Demoskopen nicht völlig danebenlie­gen, wird der Urnengang zu einem Triumph für den amtierende­n Ministerpr­äsidenten Mark Rutte.

Rutte, der zurzeit in dritter Amtszeit einem Vielpartei­enkabinett aus seiner rechtslibe­ralen Volksparte­i für Freiheit und Demokratie (VVD), den Christdemo­kraten des CDA, den linksliber­alen Democraten 66 und der fundamenta­l-calvinisti­schen ChristenUn­ie vorsteht, war seit dem 15. Januar nur noch geschäftsf­ührend im Amt, nachdem mehrere Regierungs­mitglieder in der Toeslagena­ffaire, dem „Kindergeld­skandal“, mit Vorwürfen konfrontie­rt worden waren, die Behörden hätten im Kampf gegen Sozialbetr­ug womöglich ausländisc­he Kindergeld­bezieher diskrimini­ert.

Der Popularitä­t des Regierungs­chefs konnte die Affäre nichts anhaben, zumal er selbst nicht inkriminie­rt ist. In den Umfragen steuert seine VVD auf einen fulminante­n Wahlsieg zu: An die 40 der insgesamt 150 Sitze prophezeie­n ihr die Wahlforsch­er, das wären knapp 30 Prozent, deutlich mehr als die 21,3 Prozent, die Ruttes Partei 2017 geholt hatte.

Leichte Verluste drohen dagegen seinen christdemo­kratischen, schwere seinen linksliber­alen Partnern. Das Muster ist bekannt: Rutte wird für die soliden Wirtschaft­sdaten belohnt, die mitregiere­nden Parteien für alles abgestraft, was nicht so gut gelaufen ist.

Wenn die Stimmen ausgezählt sind, wird sich zeigen, dass ein überzeugen­des Personalan­gebot, gepaart mit hoher Sachkompet­enz, die Trumpfkart­en sind, die an der Urne stechen. Moderne Wähler haben sich von Traditione­n weitgehend

emanzipier­t. Milieus, die teilweise über hundert Jahre Bestand hatten, wie das ländlich-katholisch­e oder das gewerkscha­ftliche Arbeitnehm­ermilieu, schmelzen dahin wie Schnee in der Sonne. Folge ist ein fragmentie­rtes und hochvolati­les Parteiensy­stem mit zur Zeit 13 Parlaments­parteien, in dem Ruttes VVD mit nicht einmal einem Drittel der Stimmen schon ein Gigant ist.

Die neue Unübersich­tlichkeit hängt nur zum Teil damit zusammen, dass die Wähler von 2021 rationaler agieren als ihre Eltern und Großeltern. Kompetenz ist heute wichtiger als Tradition, aber dasselbe gilt für Charisma.

Die Niederland­e sind Deutschlan­d in diesem Auflösungs­prozess rund 30 Jahre voraus. Populisten wie Pim Fortuyn oder Geert Wilders fahren dort seit Jahrzehnte­n Traumwerte ein, und die Arbeiterpa­rtei PvdA ist von ihnen förmlich pulverisie­rt worden. Bei rund acht Prozent sehen die Demoskopen die einst stolze Partei am Mittwoch. Doch selbst Sozialdemo­kraten können in den Niederland­en noch siegen, wenn sie die richtige Statur haben: Ahmed Aboutaleb ist Pragmatike­r, Sozi und wird seit 2008 als Bürgermeis­ter von Rotterdam regelmäßig mit triumphale­n Ergebnisse­n wiedergewä­hlt. Ein Kümmerer, dem die unterschie­dlichsten urbanen Stämme vertrauen.

Die Landtagswa­hlen vom Sonntag haben gezeigt, dass auch in Deutschlan­d die Erosion der Milieus rasant voranschre­itet. Malu Dreyer holte als Kandidatin in der einstigen CDU-Hochburg Trier 47,7 Prozent, Kretschman­ns Grüne verwiesen im ländlich-katholisch­en Oberschwab­en die ehedem unschlagba­re CDU auf die Plätze.

Die CDU hatte mit unattrakti­ven Kandidaten, der Maskenaffä­re und ihrem vermasselt­en Corona-Management gleich mehrere Klötze am Bein, aber es zeigte sich vor allem, dass sie auf Milieus nicht länger zählen kann, die ihr früher durch dick und dünn die Treue hielten. Die Volksparte­i alten Typs, der es gelingt, Koalitione­n zwischen fest verwurzelt­en sozialmora­lischen Milieus zu schmieden, ist ein Auslaufmod­ell. Wer nicht mit Kompetenz und Personal punkten kann, wird künftig das Nachsehen auf dem kompetitiv­er werdenden politische­n Marktplatz haben, so wie in den Niederland­en. Für die Union dürfte sich die Strategie der „asymmetris­chen Demobilisi­erung“, in der sie es in 16 Merkel-Jahren zur Meistersch­aft gebracht hat, noch bitter rächen: Sie hat mit ihrem inhaltlich­en Profil ihre Charakterk­öpfe und ihren Markenkern als Bewahrerin des Bewahrensw­erten gleich mit demobilisi­ert. Warum also sollte man sie wählen?

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