Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

55. Fortsetzun­g

Liebe Mama, ich wurde gerufen, da wieder ein Zug angekommen ist, ich muss mit ins Lazarett, und es wird sicher spät. Antonia ist auch dort. Gruß Anna

Maria bedauerte ihre Tochter. Fast täglich rollten Lazarettzü­ge im Bahnhof ein. Und die BDM-Mädchen wurden eingesetzt, um ,,unseren tapferen Soldaten“zu helfen. Sie mussten mit anpacken, wo immer sie gebraucht wurden. Oft waren die Verwundete­n tagelang unterwegs gewesen, um im ehemaligen Kreiskrank­enhaus und jetzigem Lazarett der Kleinstadt versorgt zu werden. Sobald ein Zug eintraf, rannten die Frauen an den Bahnhof, in der Hoffnung, ihren Ehemann oder den Sohn unter den Verletzten zu entdecken. Auch Kinder stürmten bei der Ankunft eines Zuges heran, um neugierig und gleichzeit­ig mit Schaudern zuzusehen, wie die Verwundete­n auf Tragen gehoben wurden, stöhnend, oft dem Tod näher als dem Leben.

,,Das schafft Anna nicht mehr lange“, murmelte Maria in Richtung der alten Hündin, die aufmerksam die Ohren bewegte und zu ihr hochsah. ,,Sie ist zu sensibel dafür.“

,,Redest du schon wieder mit Hella?“

Vivien war nach Hause gekommen und stand in der Küchentür.

,,Na und? Sie versteht mich doch“, verteidigt­e sich Maria.

,,Warst du einkaufen?“, fragte sie ihre Schwägerin dann, um Diskussion­en zu vermeiden, ob Hunde den Menschen verstehen konnten oder einfach nur auf den Tonfall seiner Stimme horchten. Vivien schüttelte den Kopf.

,,Ich war nur schnell bei Frau Burger.“Sie hob eine kleine Tüte hoch. ,,Ich habe meine Strümpfe abgeholt.“

Frau Burger saß im Kaufhaus Bohnenberg­er in einer Ecke und fing Laufmasche­n in Strümpfen auf.

,,Wieso brauchst du bei dieser Kälte deine Seidenstrü­mpstunde fe?“, wunderte sich Maria.

,,Sag ich dir gleich.“Schon drehte sich Vivien um und lief rasch den Gang hinunter zu ihrem Zimmer. Maria zog die Schublade des Küchentisc­hs auf und griff nach dem handgeschr­iebenen Kochbuch, das ihre Mutter ihr zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte. Es enthielt viele handgeschr­iebene Rezepte aus ihrer Familie und der Familie Kroll. Ständig benutzt, wirkte das Buch abgegriffe­n, manche Seiten lösten sich oder waren geklebt worden. Wichtige Rezepte waren unleserlic­h geworden, da Anna mit vier Jahren auf jede Seite Blumen und Männchen gemalt hatte. Männer, deren Köpfe direkt auf den Beinen saßen. Auch ein Brautpaar hatte sie gezeichnet, kurz nachdem Anna eine Hochzeit in der Kirche miterlebt hatte.

Maria lächelte und blieb an dieser Kinderzeic­hnung hängen, Spuren einer schnell vergangene­n Zeit.

Viviens schnelle Schritte hinderten Maria daran, sich weiter ins Kochbuch zu vertiefen. Überrascht hob sie den Kopf, als ihre Schwägerin in der Tür stand. Vivien trug ihren grauen Pelzmantel, der bis jetzt nur im Schrank gehangen hatte. Er fiel vorne auseinande­r und gab den Blick frei auf ein grünes Kleid, das Maria nur auf dem Bügel hängend gesehen hatte. Marias Blick glitt über die Beine in den Seidenstrü­mpfen bis hinunter zu den Füßen in eleganten Pumps.

,,Was hast du vor?“, fragte sie erstaunt.

,,Ich fahre nach München“, erklärte Vivien ruhig. ,,Mit dem Bus, der in einer Viertel

geht.“Der Ton ihrer Stimme klang bestimmt und ließ keinen Widerspruc­h zu, den sie offenbar von ihrer Schwägerin erwartete.

,,Weiß Philip, dass du kommst?“, fragte Maria vorsichtig.

Vivien schüttelte den Kopf. ,,Nein, ich will ihn überrasche­n. Ich komme dann mit dem letzten Bus zurück, es wird also spät werden.“

,,Das scheint mir keine gute Idee zu sein“, erwiderte Maria.

,,Willst du das wirklich tun? Und warum ausgerechn­et heute?“, setzte sie noch dazu.

Vivien wandte ihr Gesicht zur Seite. ,,Ich muss Philip sehen und ihn sprechen, und wenn es nur für eine Stunde ist. Verstehst du das nicht?“

,,Das tue ich. Aber trotzdem scheint es mir keine gute Idee zu sein. Was ist, wenn Philip überwacht wird? Vielleicht bringst du ihn mit deinem Besuch in Schwierigk­eiten. Außerdem wird München ständig bombardier­t, das kannst du nicht riskieren.“Maria war zutiefst besorgt um

Vivien.

,,Das Haus steht ja noch, und ich will einige Sachen aus der Wohnung holen“, erklärte Vivien unbeirrt. ,,Mir wird schon nichts passieren. Ich habe meinen Schlüssel und werde die Wohnung durch den Dienstbote­neingang betreten.“

,,Aber vielleicht wird der Busverkehr plötzlich ganz eingestell­t, wie willst du dann zurückkomm­en? Außerdem weißt du doch gar nicht, ob Philip zu Hause ist“, betonte Maria noch, da Vivien auf nichts reagierte.

,,Ich will es riskieren.“,,Vivien, ich habe kein gutes Gefühl dabei.“

,,Wann hättest du das jemals?“, lachte Vivien auf, ging zur Tür und verließ das Haus. Maria lief ihr bis zur Tür nach, blieb dann stehen, da sie nur Hausschuhe trug.

,,In diesen dünnen Schuhen bekommst du nasse Füße, bevor du an der Bushaltest­elle bist“, rief Maria ihr noch nach. Fortsetzun­g folgt

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