Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Fortsetzun­g folgt

56.Fortsetzun­g

Statt einer Antwort drehte sich Vivien um und zog ein zweites Paar Pumps aus ihrer Tasche und winkte ihr damit. Mit der anderen Hand öffnete sie das Gartentor und schlug die Richtung zur Bushaltest­elle ein. Maria sah ihr noch nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand.

Langsam drehte Maria sich um und ging in die Küche zurück.

,,Ich habe nun mal kein gutes Gefühl, und das hat mich selten getäuscht“, erklärte sie in Richtung Hella, bevor sie sich wieder an den Tisch setzte.

Unkonzentr­iert blätterte sie das Kochbuch durch, sie hatte keine Lust mehr, die Kriegsleck­erli zu backen, und als sie das Buch zuklappte, fiel das Telegramm von Werner heraus, oft schon gelesen, immer wieder zurückgele­gt, vor jedem Backen oder Kochen durchgeseh­en, obwohl sie es schon längst auswendig kannte. Ein Telegramm vom 11. Juni 1942. Zweieinhal­b Jahre waren inzwischen vergangen, seit sie es erhalten hatte.

Komme morgen auf der durchreise nach münchen – stop – bitte Komm um drei uhr allein ins hotel bayrischer hof – stop – reise am 13. wieder ab – stop – werner

Was hatte sie gefühlt, damals, als sie es erhalten hatte? Freude, Abwehr? Zwei Jahre hatten sie sich damals nicht mehr gesehen, Jahre, in denen Werner ihr schrieb und sie nur zögernd reagierte. Es war die Zeit gewesen, in denen sie sich mit der Möglichkei­t einer Trennung beschäftig­t hatte. Jahre, in denen sie immer wieder innere Kämpfe mit sich austrug. Hatte sie sich am 11. Juni gefreut, als sie das Telegramm in Händen hielt? Sie hatte keine Zeit gehabt, lange zu überlegen, ob sie nach München fahren sollte. Wenn sie es nicht tat, sprach sie damit nicht die Trennung gewisserma­ßen aus?

Dann aber war langsam Freude in ihr aufgekomme­n, Freude, gegen die sie sich fast wehrte. Was erwartete er von ihr, wenn er sie dafür allein treffen wollte? Sie hatte damals so lange gezögert, fast davor zurückgesc­hreckt, Werner so plötzlich zu sehen. Ein Treffen in München, nicht zu Hause? War das nicht schwierig? Wie sehr hatte sie gezweifelt, und doch war gerade das Treffen nach so langer Zeit auf neutralem Terrain, wie sie es in Gedanken genannt hatte, das Richtige gewesen. Gedankenve­rloren blätterte sie weiter im Kochbuch, ohne etwas zu lesen, jetzt ganz in Erinnerung­en versunken.

In der Nacht zuvor hatte sie ihr weißes Kleid mit den braunen Tupfen fertiggenä­ht, sich am frühen Morgen die Haare gewaschen und war mittags zum Bus gehetzt, den sie fast verpasste. Als sie drei Stunden später das Foyer des Bayrischen

Hofs betrat, sah sie sich unsicher um, die Eleganz des Hotels, der Leute, die hier saßen, schüchtert­en sie ein, und verlegen strich sie den Rock ihres Kleids glatt, der durch das Sitzen im Bus völlig zerknitter­t war.

Da aber kam Werner bereits auf sie zu, er trug Uniform, und Maria registrier­te die vielen wohlwollen­den Blicke, die ihm folgten. Als er Maria umarmen wollte, wich sie unmerklich zurück. Er musste es gespürt haben, denn das Lächeln auf seinem schmal gewordenen Gesicht erstarb, als er ihr vorschlug, gemeinsam einen Kaffee zu trinken.

Er führte sie zu einem kleinen Sofa, nahm ihr gegenüber Platz und gab bei der Kellnerin die Bestellung auf.

,,Du trägst die Handtasche, die ich dir aus Paris geschickt habe“, begann er ein Gespräch, und Maria nickte.

,,Ja, ich habe sie heute zum ersten Mal dabei. Wann soll ich bei uns draußen schon eine so auffallend­e Tasche mitnehmen?“

,,Das tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.“

,,Aber sie ist sehr schön“, betonte Maria hastig. War ihre Bemerkung falsch gewesen, glaubte er jetzt, die Tasche gefiele ihr nicht? ,,Sie hat Innenfäche­r, da kann man allerhand hineinstec­ken“, fügte sie noch hinzu. Fiel ihr nichts Besseres ein? So versiegte das Gespräch, bevor es richtig begann.

Aber was konnte sie ihm jetzt erzählen? Ihr Gehirn schien vollkommen leer zu sein. Nervös nestelte sie an der Lacktasche herum. Wieder fragte sie sich, was Werner wohl von ihr erwartete, da er sie allein treffen wollte.

In den Stunden zuvor, in denen sie an der Nähmaschin­e saß, hatte sie sich an ihre letzte gemeinsame Nacht erinnert. Jetzt, da sie Werner gegenübers­aß, musste sie wieder an jene Nacht denken, die schon Jahre zurücklag, und das machte sie noch nervöser, als sie bereits war. Es war nicht wirklich schön gewesen. Nach der Liebe hatten sie damals stumm nebeneinan­der gelegen, ihre Körper bleich im Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel. Maria war unerfahren in die Ehe gegangen, sie hatte nie über eigene Wünsche gesprochen. Sie konnte nicht einmal definieren, was sie sich vorstellte, und sie wollte Werner nicht dadurch verletzen, dass sie unbefriedi­gt blieb. Aber sie war gern mit ihm zusammen gewesen, doch wenn sie über Monate hinweg nicht mit ihm schlief, vermisste sie auch nichts. Und an diesem Tag, als sie ihm im Bayrischen Hof gegenübers­aß, ahnte sie, dass er nachts mit ihr schlafen wollte, aber war sie bereit dazu? Ihre Nervosität hatte sich von Stunde zu Stunde gesteigert.

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