DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
59. Fortsetzung
Jetzt schlich sie sich fast jedes Mal, wenn sie allein war, ins Biedermeierzimmer, um in Ruhe den Brief zu lesen und nicht immer wieder gefragt zu werden, wie oft sie eigentlich diese Zeilen las. Sie wollte sie immer wieder in sich aufnehmen, den Brief glatt streichen und an Werner denken.
So wie jetzt in dieser Stunde des Alleinseins. Sie überflog die Zeilen, die sie längst auswendig kannte, während sie sich auf den Stuhl setzte. Seit jenem Tag war jede Verbindung zu ihm abgebrochen. Was blieb ihr, außer, diese letzten Zeilen von ihm zu lesen, immer wieder, so als könne man zwischen den Buch staben noch irgendetwas erkennen, das ihr bis jetzt entgangen war. 13. Juni 1942
Mein geliebtes Mariele, es ist noch keine halbe Stunde her, da stand ich mit Dir, mein liebes Mariele, und Anna vor der letzten Wagentür, seltsam bewegende Minuten, in denen wir wenig sprachen. Dann aber kam schon der Ruf ,,Einsteigen“, eine hastige letzte Umarmung. Von meinem Abteil aus sah ich erhobene Arme, weiße Tücher, die uns nachwinkten. Ich sah Dich und Anna, die sich an Dich drückte, auch sie hob den Arm, um mir zu winken.
Immer schneller drehten sich die Räder, immer kleiner und verschwommener wurdet ihr, wurden all die Menschen, die uns ein letztes Lebewohl mit auf den Weg gaben.
Ich habe noch eine Weile am Fenster gestanden und in die Richtung der entschwindenden Bahnhofshalle gestarrt.
Was kam auf mich, auf uns alle hier zu? Es kann ein Abschied für immer sein, und die Furcht, Euch nie mehr sehen zu dürfen, belastet mich schwer.
Gleichzeitig ist mein Herz doch von einem gewissen Stolz und sogar innerer Befriedigung erfüllt, dass ich nun zum ersehnten Einsatz komme.
Irgendwie ist man doch auch abergläubisch. Die Abfahrt vom Gleis 13 am heutigen Tag, dem 13. Juni, ist das ein schlechtes Omen?
Wie wird es sein?
Ich und alle anderen im Zug wissen nur eines, wir fahren nach Russland. Von einer Stadt namens Stalingrad ist die Rede. Sie soll uns den Weg in den Kaukasus ermöglichen.
In Liebe für Dich und Anna Werner
Langsam faltete Maria den Brief wieder zusammen und schob ihn in das Fach ihres Schreibsekretärs zurück. Über zwei Jahre waren vergangen, seit sie ihn erhalten hatte. Sie hatte nichts mehr von Werner gehört, bis am 3. Februar 1943 der Großdeutsche Rundfunk die Nachricht meldete, dass die 6. Armee unter der Führung von General Paulus bis zum letzten Atemzug gekämpft habe, aber einer Übermacht erlegen sei. Alle Soldaten hätten den Tod gefunden.
Zwei Jahre ungebrochene Hoffnung, Zeit zu glauben, Werner gehe es gut. Das Schicksal habe ihn verschont. Es konnte nicht sein, dass Werner im Kampf um sein Land gefallen war, gerade dann, nachdem sie beide wieder zueinander gefunden hatten, nachdem Maria endlich erkannt hatte, dass sie Werner liebte? Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Wie oft hatte sie diese Worte wiederholt, doch sie lösten sich zwischen Erde und Himmel in nichts auf, wurden nicht erhört, fanden keine Antwort mehr.
,,Werner ist nicht tot“, hatte sie mit stoischer Ruhe erklärt, Anna beruhigt, die mit ängstlichen Augen ihre Mutter ansah, eine Erklärung forderte, die ihr die Gewissheit gab, ihr Vater lebe noch.
Es sickerte eine Meldung des Feindsenders BBC durch, General Paulus habe sich ergeben und sei mit seinen Soldaten in russische Gefangenschaft gegangen. Bedeutete das Hoffnung, war Werner unter den Gefangenen, lebte er irgendwo in einem Straflager? Oder war er in russischer Erde verscharrt worden?
Maria legte den Brief zurück und nahm das Foto hoch, das ebenfalls im Kuvert steckte. Der Fotograf vom Odeonsplatz hatte die beiden Abzüge tatsächlich am nächsten Morgen ins Hotel gebracht. Eines davon hatte Werner mitgenommen, und eines lag hier in ihrem Sekretär. Sie sah darauf zu Werner hoch, lachend, glücklich in diesem Augenblick wie schon lange nicht mehr.
,,Werner“, flüsterte sie, ,,komm zurück, komm zurück.“Maria blieb noch eine Weile in Gedanken versunken sitzen, bis sie anfing zu frieren, dann verschloss sie den Sekretär und setzte sich an den Flügel.
Seit zwei Jahren saß sie wieder regelmäßig hier. Vielleicht, weil Anna fand, sie spiele so schön oder weil sie selbst erkannt hatte, wie sehr die Musik und die Konzentration darauf sie für eine kurze Zeit die Gegenwart vergessen ließ. Musik versetzte sie in eine andere Welt, eine glücklichere. Doch es war zu kalt im Zimmer, ihre Finger wurden allmählich klamm, und es wurde bereits dunkel. Ohne Licht zu machen, stand sie auf und tastete sich in die Küche zurück.
,,Hast du Hunger?“, fragte sie Hella, die mit dem Schwanz wedelte und ihre Zunge heraushängen ließ. Während Maria das Licht anmachte, sprach sie weiter mit dem Hund. ,,Du hast mich verstanden, nicht wahr? Lass Vivien nur reden, was sie will, wir wissen es besser.“ Fortsetzung folgt