DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
60. Fortsetzung
Sie lachte ein wenig. Es klang traurig, aber so fühlte sie sich eben. Während sie unlustig in die Speisekammer ging und die Regale absuchte, läutete das Telefon, und das Fräulein vom Amt verband sie mit Vivien.
,,Ich komme heute nicht nach Hause, der Bus fährt nicht weiter“, erklärte sie. Ihre Stimme klang gepresst, auch gehetzt.
,,Ich sitze in Augsburg fest und übernachte im Hotel ›Vier Jahreszeiten‹.“
,,Wie war es in München?“, fragte Maria vorsichtig, doch dann biss sie sich auf die Lippen. Viviens Stimme klang nicht so, als ob sie eine freudige Mitteilung machen konnte.
,,Die Stadt hat sich verändert. Das Opernhaus ist zerbombt, auf den Straßen, nun ja, alles anders eben“, beendete Vivien den Satz. ,,Viel Militär, auch Menschen mit dem Stern.“,,Und wie ist es im Hotel?“,,Es sind kaum Gäste da, deswegen hat man mir eine
Suite gegeben. Wenn es heute Nacht Fliegeralarm gibt, müssen wir runter in den Weinkeller. Er ist im Moment der Luftschutzkeller.“Vivien redete schnell und ein wenig unzusammenhängend, und Maria ahnte, dass sie nichts erzählen wollte.
,,Also, Maria“, erklärte ihre Schwägerin in betont munterem Ton. ,,Ich gehe jetzt hinunter in die Bar, ich habe keine Lust, den Abend hier oben zu verbringen.“
,,Du gehst allein in eine Bar?“Maria war zutiefst befremdet.
,,Ja, als ich vorhin am Empfang stand, sprach mich ein Mann an. Er fragte mich, ob ich mal etwas Verrücktes machen möchte.“
,,Und?“Marias Stimme klang ihr selbst in den eigenen Ohren zutiefst misstrauisch.
,,Ich habe gesagt, ich hätte gerade schon etwas Verrücktes getan, aber es habe nicht geklappt. Da lachte er und meinte, da könne ich ja weitermachen. Er lud mich auf ein Glas in die Bar ein. Also gehe ich jetzt hinunter.“
,,Wer ist dieser Mann?“, fragte Maria besorgt. ,,Kennst du ihn denn?“,,Natürlich nicht.“,,Vivien, das kannst du doch nicht machen.“Vivien lachte, doch es klang wie ein Schluchzen.
,,Er hat sich vorgestellt, sein Name ist Tassilo.“,,Tassilo und wie weiter?“,,Das ist egal. Also, wir sehen uns dann morgen, ich komme mit dem ersten Bus, falls er fährt.“
,,Vivien kommt erst morgen wieder“, erklärte Maria Hella, als sie zurück in die Küche kam. Sie stellte sich ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Draußen herrschte bereits tiefste Dunkelheit.
Maria lehnte die Stirn an die Fensterscheibe, sie fühlte sich entsetzlich allein. Sie hob
ihren Kopf und beobachtete die Suchscheinwerfer, die in den nachtschwarzen Himmel irrten, aufstrahlten, dann im Dunkeln versanken und wieder aufstrahlten.
Und ihre Einsamkeit wuchs.
*
Nach dem Telefonat mit Maria blieb Vivien auf dem Bett sitzen, ihre Hand strich über die seidene Steppdecke, ihr Blick glitt von den schweren dunkelgrünen Samtvorhängen über die dicken Perserteppiche bis zur offenen Badezimmertür.
Maria hatte ihr abgeraten, nach München zu fahren. Maria hatte gesagt, sie habe gar kein gutes Gefühl.
Aber was wusste Maria schon von ihrer großen Sehnsucht nach Philip, eine Sehnsucht, die sie über vier Jahre versucht hatte zu verdrängen.
Sie hatte geglaubt, stark zu sein, und doch hätte sie es wissen müssen: Niemand war unverwundbar.
Bevor sie zu Maria ,,ausgewandert“war, wie sie es damals im Scherz genannt hatte, hatten sie und Philip zusammen in ihrem Lieblingsrestaurant gesessen, und nach dem Essen hatte Philip ihre Hand genommen und gesagt, er liebe sie. Und nur sie und das für immer. Und trotzdem hatte er sie weggeschickt, und sie hatte ihn bewundert für das, was er tat, und für das, wofür er stand.
Als sie an diesem Tag ins Haus in der Widenmayerstraße gegangen war, hatte sie Angst verspürt, dass sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legen und ein Mann der Gestapo sie anhalten würde. Doch sie war unbehelligt über die Dienstbotentreppe in die Wohnung gelangt, hatte die Tür aufgeschlossen und stand dann in der Küche, ihrer Küche.
Sie hatte gerufen, doch es war still geblieben. Als sie sich umsah, fiel ihr Blick auf den Tisch, und dort lag ein Zettel. Sie las ihn, langsam, einmal, dann wieder und wieder, doch sie begriff den Inhalt nicht. Erst nach und nach wurde ihr klar, was diese Nachricht bedeutete. Liebster, ich freue mich so, dass wir zwei Tage für uns haben, dass wir allein sein können.
Ich liebe Dich.
Vivien las die Zeilen noch einmal. Vielleicht lebte jemand bei Philip, ein Paar, und die Frau hatte die Nachricht an ihren Mann geschrieben? Es stand keine Anrede darauf. Aber wo war dann Philip?
Langsam legte Vivien den Zettel zurück auf den Tisch. Es muss nichts bedeuten, gar nichts. Von der Küche aus ging sie direkt durchs Esszimmer in den Wohnraum und dann weiter ins Schlafzimmer. An der Schwelle blieb sie stehen. Fortsetzung folgt