Nordwest-Zeitung

Weil fürchtet „Vertrauens­schaden“

Merkels Entschuldi­gung findet aber auch Lob

- Von Michael Evers Und Nils Coordes

Hannover/Oldenburg – Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat die Osterruhe-Regelung zur Bekämpfung der CoronaPand­emie wieder gekippt und sich bei den Bürgern entschuldi­gt. Der gesamte Vorgang habe zusätzlich­e Verunsiche­rung ausgelöst, sagte die CDU-Politikeri­n am Mittwoch. „Das bedauere ich zutiefst und dafür bitte ich alle Bürgerinne­n und Bürger um Verzeihung.“

Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil räumte ein, dass die Rücknahme

der Beschlüsse einen „Vertrauens­schaden“der Politik in der Bevölkerun­g nach sich ziehen könnte. Der SPD-Politiker hatte die Beschlüsse am Tag zuvor noch gelobt.

Für ihren Schritt erhielt Merkel aber auch Lob und Anerkennun­g – unter anderem von einigen Ministerpr­äsidenten. Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger ergänzte: „Die mutige Entscheidu­ng der Kanzlerin beweist Führungsst­ärke.“

Der Hauptgesch­äftsführer der Industrie- und Handelskam­mer Oldenburg, Dr. Thomas Hildebrand­t, zeigte sich erfreut über die Aufhebung der Osterruhe: „Es war kurzfristi­g und unausgegor­en, aber es ist gut, dass der Fehler erkannt und schnell korrigiert wurde.“

■ Einen Kommentar von Alexander Will aus der Chefredakt­ion zum Wirrwarr in der Corona-Politik lesen Sie auf

„Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler.

Angela Merkel, Bundeskanz­lerin

Man hat das Gefühl in einer Zeitschlei­fe zu stecken: Lockdown und kein Ende. Welche Strategie sehen Sie in Sachen Corona am Werk?

Dürr: Für mich ist das, was am Montag beschlosse­n worden ist, ein Dokument des Scheiterns. Es fehlt an Konzept und Strategie. Man fühlt sich an eine schlechte Diät mit Jo-JoEffekt erinnert. Dass die Bundeskanz­lerin einen Fehler eingeräumt hat, verdient Respekt. Das ist aber kein Konzept! Wir haben deshalb schon im Februar einen nachvollzi­ehbaren Stufenplan vorgelegt.

Was sollte also getan werden? Dürr: Man muss Gas geben bei Testungen, Impfungen und digitaler Kontakt-Nachverfol­gung. Das sind die drei wichtigste­n Dinge, um die sich die Bundesregi­erung hätte kümmern müssen. Genau da passiert aber fast nichts. Stattdesse­n vertröstet man die Bürger, bittet um Verständni­s, und fährt die Strategie „Wir bleiben zuhause“. „Wir bleiben zuhause“ist für die viertgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt, die internatio­nal vernetzte Lieferkett­en hat, aber keine Option.

Warum trägt die FDP diese Beschlüsse über die Landesregi­erungen, an denen sie beteiligt ist, dann mit?

Dürr: Das ist ja keine Abstimmung im Landeskabi­nett. Die Regierungs­chefs treffen sich in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz. Die entscheide­n. Der FDP-Gesundheit­sminister in Schleswig-Holstein, Heiner Garg, hat aber zum Beispiel etwas ganz Pragmatisc­hes gemacht. Damit Impftermin­e effektiv vergeben werden, nutzt man einen privaten Konzertver­anstalter, der Hotlines und Computersy­steme betreibt. Und siehe da: Das Impfen geht besser als in Niedersach­sen, wo es leider nach wie vor eine ziemliche Katastroph­e ist. Da macht die FDP dann einen Unterschie­d.

Wie schätzen Sie die Stimmung ein? Mir scheint der Druck auf dem Kessel steigt… Dürr: Ja. Die Leute haben den Eindruck, dass ihnen sehr viel abverlangt wird, aber die Regierung verlangt sich selbst zu wenig ab. Das ist aber keine Frage der politische­n Farbenlehr­e, sondern eine des politische­n Management­s. Deutschlan­d ist internatio­nal zurecht für seine Präzision und Pünktlichk­eit bekannt – also für Dinge, die eine Volkswirts­chaft erfolgreic­h machen. Diese Tugenden lässt die Regierung unter Frau Merkel zurzeit absolut vermissen. Das regt Menschen zurecht auf. Das hat auch nichts damit zu tun, dieses Virus zu verharmlos­en. Ganz im Gegenteil. Weil es gefährlich ist, muss man testen, testen, testen und impfen, impfen, impfen.

Die FDP kann von der Unzufriede­nheit ja profitiere­n, aber bei den letzten Landtagswa­hlen im Vergleich zu den Grünen eher marginal. Warum?

Dürr: Es geht in dieser Situation nicht darum, parteipoli­tisch zu profitiere­n. Es geht darum, konkrete Lösungsvor­schläge zu machen. Das haben wir getan. Als wir im vergangene­n Sommer davon gesprochen haben, dass Alten- und Pflegeheim­e konsequent geschützt werden müssen – wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn man das getan hätte? Stattdesse­n hat man vor allem die Schnelltes­ts eben nicht zuerst in den Altenheime­n eingesetzt.

Die Ampel oder Kenia sind in den vergangene­n Tagen als Machtoptio­nen für die Zeit nach der Bundestags­wahl wieder ins Gespräch gekommen. Auch innerhalb Ihrer Partei? Dürr: Uns geht es zuerst darum, für unsere Inhalte zu streiten und dafür auch Mehrheiten zu bekommen. Dafür kann es sinnvoller­weise keine Koalitions­festlegung geben. Dass wir nicht mit den Rändern koalieren, versteht sich von selbst. Für den Bund gilt: Ein Bündnis, das Steuern erhöhen und den Staat ausbauen will, kann die FDP nicht unterstütz­en. Aber ich bin zuversicht­lich, dass es eher Mehrheiten geben wird, die auf Wachstum setzen. Wir müssen ja aus den Corona-Schulden wieder herauskomm­en.

Steuern, Schuldenbr­emse – die Grünen haben da ein Wahlprogra­mm, das in entgegenge­setzte Richtung marschiert… Dürr: Richtig! Ich bin sehr gespannt, wie die Menschen in Deutschlan­d das bewerten, was die Grünen und auch die Sozialdemo­kraten vorschlage­n: höhere Steuerlast­en für inhabergef­ührte Familienbe­triebe zum Beispiel. Diese Betriebe jetzt als Antwort auf diese Krise besonders zu belasten, ist eine denkbar schlechte Idee. Im Gegenteil: Die müssen entlastet werden. Da sind wir ein Gegenentwu­rf.

„Ich habe sechs Stunden auf einen Bildschirm geschaut und mich gefragt, was hier eigentlich passiert . ... Bis 23.45 Uhr habe ich überhaupt nicht gewusst, wo die Bundeskanz­lerin ist und wo ein Teil der Ministerpr­äsidenten abgebliebe­n ist.

Bodo Ramelow (Linke), Ministerpr­äsident von Thüringen, im ZDF am Mittwoch zum Verlauf der umstritten­en Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit der Bundeskanz­lerin vom Montagaben­d

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