Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- 61. Fortsetzun­g ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

Das Bett war gemacht, die Kissen aufgeschüt­telt. Darauf lag ein seidenes Nachthemd, ein wenig nachlässig lag es da, so als habe es sich eine Frau gerade über den Kopf gezogen, bevor sie nackt ins anliegende Badezimmer lief.

Es war der Moment, in dem Vivien zu zittern anfing, ihre Hände eiskalt wurden, und sie spürte, wie ihr Atem stockte. Sie ging die paar Schritte ins Badezimmer. Dort stand sie einfach nur da, sah auf der Marmorabla­ge mehrere Cremetöpfe stehen, daneben einen Flakon des französisc­hen Parfümeurs Guerlain. Sie starrte darauf, bis sie begriff, dass sie die Frau kannte, die es benutzte.

In Viviens Lalique-Schale hatte jemand eine silberne Haar bürste mit dem kunstvoll eingravier­ten Buchstaben ,,J“gelegt. Vivien selbst hatte diese ausgefalle­ne und kostbare Bürste verschenkt. Vor vielen Jahren, an ihre beste Freundin Jette, die Frau von

Peter Lessing, Philips bestem Freund.

Langsam beugte sich Vivien jetzt zu ihren eiskalten und nassen Füßen hinunter und schlüpfte aus den hohen Schuhen. Es war anstrengen­d, jede Bewegung schien zu viel. Ihren Strapsgürt­el und die Strümpfe zog sie ebenfalls aus. Schon wieder eine Laufmasche, schoss es ihr durch den Kopf, egal, dann musste sie eben wieder zu Frau Burger gehen. Ihre Füße waren rot vor Kälte und prickelten, als Vivien sie leicht massierte. Sie holte ihre Ersatzpump­s aus der Tasche und schlüpfte mit nackten Füßen hinein.

Sie ging nicht einmal mehr ins Badezimmer, um sich zu frisieren oder die Lippen nachzuzieh­en, sondern verließ das Zimmer, dessen Stille sie nicht ertragen konnte.

Unten wartete Tassilo auf sie. Ein hübscher Mann, gut gekleidet, gepflegt und sicher mindestens zehn Jahre jünger als sie. Hatte er Heimaturla­ub? Egal, sie wollte es nicht wissen.

,,Schön, dass Sie gekommen sind, ich hatte schon Angst, Sie versetzen mich.“

,,Ich habe noch telefonier­t“, war ihre einsilbige Antwort. Jedes Wort strengte sie an. Sie wollte keine Fragen beantworte­n, nur die Nähe eines Menschen spüren. Er fragte nicht, ob sie mit ihrem Ehemann telefonier­t hatte, etwa, um herauszufi­nden, ob sie verheirate­t war, sondern nahm sie leicht am Arm und führte sie in die Bar. Vivien war überrascht, dass sich dort so viele Leute an der Theke drängelten, obwohl das Hotel nicht ausgebucht war. So stand sie mit einem Fremden unter Fremden.

Sie war einfach weggerannt, weg von dem Haus, in dem sie jahrelang mit Philip gewohnt hatte und glücklich gewesen war. Weiter bis zur Maximilian­straße, vorbei am Nationalth­eater,

in dem sie so oft mit Philip in einer Vorstellun­g gewesen war. Anschließe­nd hatten sie zu Hause noch diskutiert, sich über die Oper unterhalte­n und dazu einen französisc­hen Kognak getrunken.

Während Tassilo dem Mann hinter der Bar winkte, wandte er sich ihr zu und sagte irgendwas. Doch sie verstand ihn nicht, da es zu laut war, so hob sie nur die Schultern. Da beugte er sich ganz nahe an ihr Ohr und fragte, was sie trinken wolle. Als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, berührten seine Lippen ganz leicht und wie zufällig ihren Hals. Sie wandte sich nicht ab, wich ihm auch nicht aus, sondern lächelte ihm zu und sagte, wenn es einen gäbe, würde sie gern einen französisc­hen Kognak trinken. Neun

In der bayrischen Kleinstadt/ 1. Dezember 1944

Unbehagen erfasste Anna, als sie das Krankenhau­s betrat. Allein der Geruch nach Desinfekti­onsmittel bereitete ihr Übelkeit. Alles in ihr wehrte sich gegen die Vorstellun­g, hier wieder arbeiten zu müssen, Bettpfanne­n zu stapeln oder dreckige Bettwäsche einzuweich­en und mit einer Bürste zu schrubben, bis ihre Hände von der Kernseife und den Desinfekti­onsmitteln rauh und rot entzündet waren.

Wie schaffte Antonia das nur? Seit einem Jahr war Annas Cousine im Krankenhau­s Lernschwes­ter und sicher die Einzige, die sich vor der Stationssc­hwester Hertha Münster nicht fürchtete, auch nicht, wenn Oberschwes­ter Hertha jenes Lächeln aufsetzte, das einer vernichten­den Kritik vorausging. Sie litt auch nicht unter der ewigen Angst und Anspannung, Fehler zu machen, denn Antonia machte keine, sie war vorbildlic­h im ständigen Einsatz für die Verwundete­n. Anna aber wollte nicht Krankensch­wester werden, und sie sah nicht ein, warum sie hier vom BDM eingesetzt wurde, auch wenn es in diesem Monat, unter Hertha Münsters Aufsicht, nur zum Helfen auf eben jener Privatstat­ion war, auf der auch Antonia arbeitete. Auf der Station im zweiten Stock gab es keine Verwundete­n, auf dieser Station lagen die sonstigen Kranken.

Jetzt schlich sich Anna in die Putzkammer und setzte sich hinter einem Garderoben­ständer auf den Boden. Sie nahm ein schmales Büchlein aus der Tasche, schlug es an der markierten Stelle auf, schloss die Augen und deklamiert­e leise:

Du weißt, die Nacht verschleie­rt mein Gesicht, sonst färbte Mädchenröt­e meine Wangen um das, was du vorhin mich sagen hörtest. Gern hielt ich streng auf Sitte, möchte gern …

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