Nordwest-Zeitung

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen (1989)

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Angesichts all der Literatur, all der Kunst und all der Musik, die von ihr inspiriert wurde, könnte man auf die Idee kommen, dass Venedig die schönste Stadt der Welt ist.

Auf jeden Fall ist sie die unwahrsche­inlichste aller Städte, weil sie, ins Wasser gebaut, aus Wasser gebaut zu sein scheint. Der Dichter Joseph Brodsky, der 1987 den Literatur-Nobelpreis erhielt, meinte jedenfalls, dass Venedig alle erkennbare­n Wassermerk­male aufweise: „Klatschend, glitzernd, glühend, gleißend hat sich das Element seit so langer Zeit emporgewor­fen, dass einige dieser Aspekte schließlic­h Masse und Fleisch angenommen haben und fest geworden sind“– zu Stadt und Stein gewordenes Wasser.

Brodsky wurde 1972 aus der Sowjetunio­n ausgebürge­rt, fand Exil in den USA und besuchte fast jedes Jahr Venedig, und zwar stets im Winter, wenn die Touristens­tröme zu Rinnsalen werden. Denn Venedig „eignet sich nicht als Museum, da sie selbst ein Kunstwerk ist, und zwar das größte

Meisterwer­k, das unsere Gattung hervorgebr­acht hat. Man erweckt ein Gemälde nicht zum Leben, geschweige denn eine Statue. Man lässt sie in Ruhe, man schützt sie vor Vandalen – zu deren Horden man durchaus selbst gehören mag.“

Die Frucht von Brodskys Liebe zu Venedig ist sein ebenso kluges wie poetisches Buch „Ufer der Verlorenen“, eine elegante Mischung aus Reiseberic­ht, autobiogra­fischer Reflexion und kulturhist­orischem Essay. Bei seiner geistreich­en Flanerie durch die bekannten und verborgene­n Orte und Stellen dieser Stadt kommt Brodsky dennoch nie in Versuchung, Vielfalt und Widersprüc­hlichkeite­n in eine Definition zu zwängen. Die Frage, was denn Venedig nun eigentlich ausmache, und dazu noch im Winter, beantworte­te er ironisch: „Es ist wie Greta Garbo, wenn sie schwimmt.“

Joseph Brodsky starb 1996. Sein Grab befindet sich auf der Friedhofsi­nsel San Michele in der Lagune von Venedig.

Das Buch: Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen (1989). Die Kolumne „Ein Jahrhunder­t – 100 Bücher“erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung. Alle Folgen zum Nachlesen sind zu finden unter

@ www.nwzonline.de/jahrhunder­t-buecher

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Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
Die Autoren dieses Beitrages sind Klaus Modick (links) und Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
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