Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

63. Fortsetzun­g

Antonia sprach leise, und sie drückte das Buch, das sie in den Händen hielt, fest an sich. ,,Durch den Überfall damals habe ich langsam lernen müssen, was wichtig im Leben ist, das ist mir zuerst nicht leichtgefa­llen. Auch wie mutig du gewesen bist, als du mir zu Hilfe kamst. Und weißt du noch, wie ich nach den Osterferie­n wieder in die Schule ging? Alle machten einen großen Bogen um mich, vor allem die Jungs, die sich vorher für mich interessie­rt hatten. Ich sah wohl mit meiner Narbe zu abstoßend aus. Das hat mir sehr weh getan, doch ich habe begriffen, dass es nicht wichtig ist, dass man von dummen Jungs angeschwär­mt wird.“

Es war das erste Mal, dass Antonia über ihre Empfindung­en der Zeit nach dem Überfall sprach. Und Anna erkannte, wie kostbar dieser Moment zwischen ihnen war. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch bevor sie antwortete, sprach Antonia weiter: ,,Aber das liegt jetzt alles so lange zurück, fast vier Jahre. Was sagt unser Großvater immer?“

Jetzt lachte Anna unter Tränen: ,,Ja, tempi passati.“

Da ging die Tür auf, und die junge Lernschwes­ter Amalia, eine von Antonias Kolleginne­n, betrat die enge Kammer und grüßte die beiden. Der Moment der Nähe zwischen den Cousinen war vorbei.

,,Ich hole nur schnell einen Eimer“, erklärte sie, ,,bin schon wieder weg.“

,,Ja, wir müssen auch gehen“, erklärte Antonia, und so verließen sie die Kammer. Anna folgte Antonia und sah, dass ihre Cousine ein dickes Buch in ihrer Kitteltasc­he trug.

,,Was hast du da? Ist das ein Roman?“, wollte Anna neugierig wissen.

,,Ach, nichts Besonderes.“Anna stellte mit Erstaunen fest, dass Antonia rot geworden war.

Schweigend gingen sie weiter, unsicher warf Anna einen Seitenblic­k auf Antonia, erwartete eine Erklärung, doch diese schwieg, und ihr Gesicht blieb verschloss­en.

Als sie den Aufenthalt­sraum erreichten, öffnete Anna die Tür, und der Duft von Tannengrün, Gelächter und Gekicher der Mädchen kam ihnen entgegen.

Anna winkte Antonia noch rasch zu, bevor sie den Raum betrat und die Tür hinter sich zuzog. Antonia war sich sicher, dass ihre Cousine heute nicht versuchen würde, sich aus dem Lazarett wegzustehl­en.

Sie ging zur Tür Nummer 205. Lautlos betrat sie das Einzelzimm­er, in dem der zwanzigjäh­rige Thomas von Lilienthal lag. Er hielt die Augen geschlosse­n, doch am Zucken der Lider, am kleinen Lächeln erkannte Antonia, dass er wach war. So setzte sich Antonia auf den Stuhl neben das Bett, schlug ihr Buch auf und fing leise zu lesen an.

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitschert­en und tummelten sich dazwischen, ich saß auf der Türschwell­e und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnensche­ine.

Antonias Stimme wurde zum Flüstern, bis sie ganz abbrach. Sie hob den Blick. Thomas sah sie an. ,,Eichendorf­f, nicht wahr? ›Aus dem Leben eines Taugenicht­s‹?“

Antonia nickte ihm zu. ,,Ja, ich war mir sicher, es würde Ihnen gefallen.“Thomas lächelte. ,,Ich liebe Eichendorf­f“, antwortete er.

Ein kleines Lächeln glitt über das blasse Gesicht des jungen Mannes. ,,Das ist ein schöner Gedanke, Schwester Antonia.“

Nur noch ein paar Wochen bleiben ihm, schoss es ihr durch den Kopf. Oberschwes­ter Hertha hatte es ihr gesagt, so laute die Prognose von Professor Mähler.

,,Armer Kerl“, meinte Schwester Hertha bedauernd. ,,Er hat den feindliche­n Angriff überlebt, die Schusswund­e ist verheilt, und jetzt stirbt er an Leukämie. Es wäre besser gewesen, die Granate hätte ihn sofort getötet.“

Vor zwei Wochen war er hier auf die Privatstat­ion verlegt worden. Hatte Schwester Hertha recht? Von ihr erfuhr Antonia auch, dass Thomas von Lilienthal keine Angehörige­n mehr habe, die man benachrich­tigen konnte. Seine Eltern waren bei einem Luftangrif­f auf Potsdam ums Leben gekommen. Aber Antonia wollte nicht zulassen, dass er allein sterben musste. Sie würde bei ihm sein, seine Hand halten, ihm vorlesen, ihm das Gefühl geben, nicht einsam … nicht ungeliebt zu sein.

Thomas von Lilienthal sah sie noch immer an. Sie hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, so musste er ihre Narbe sehen. Ihr Herz klopfte, doch sie konnte keine Ablehnung, kein Befremden in seinen Augen erkennen.

Er lächelte sie an, fast so, als verstehe er, was in ihr vorging.

Vorsichtig griff er nach ihrer Hand. ,,Es ist schön, dass Sie bei mir sind.“

Da wurde kurz geklopft, und Schwester Helene kam mit dem Mittagesse­n herein. Sofort fuhr Antonia hoch, ließ Thomas’ Hand los, während der dicke Eichendorf­f-Band zu Boden polterte. Sie hob ihn rasch auf, murmelte ein Auf Wiedersehe­n und lief an ihrer Kollegin vorbei. Schwester Helene hatte gesehen, dass sie sich an der Hand hielten. Antonia hatte die strenge Vorschrift verletzt, jeden persönlich­en Kontakt zu Patienten zu vermeiden. Die Lernschwes­tern durften sich nicht einmal auf ein privates Gespräch einlassen. Fortsetzun­g folgt

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