DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
63. Fortsetzung
Antonia sprach leise, und sie drückte das Buch, das sie in den Händen hielt, fest an sich. ,,Durch den Überfall damals habe ich langsam lernen müssen, was wichtig im Leben ist, das ist mir zuerst nicht leichtgefallen. Auch wie mutig du gewesen bist, als du mir zu Hilfe kamst. Und weißt du noch, wie ich nach den Osterferien wieder in die Schule ging? Alle machten einen großen Bogen um mich, vor allem die Jungs, die sich vorher für mich interessiert hatten. Ich sah wohl mit meiner Narbe zu abstoßend aus. Das hat mir sehr weh getan, doch ich habe begriffen, dass es nicht wichtig ist, dass man von dummen Jungs angeschwärmt wird.“
Es war das erste Mal, dass Antonia über ihre Empfindungen der Zeit nach dem Überfall sprach. Und Anna erkannte, wie kostbar dieser Moment zwischen ihnen war. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch bevor sie antwortete, sprach Antonia weiter: ,,Aber das liegt jetzt alles so lange zurück, fast vier Jahre. Was sagt unser Großvater immer?“
Jetzt lachte Anna unter Tränen: ,,Ja, tempi passati.“
Da ging die Tür auf, und die junge Lernschwester Amalia, eine von Antonias Kolleginnen, betrat die enge Kammer und grüßte die beiden. Der Moment der Nähe zwischen den Cousinen war vorbei.
,,Ich hole nur schnell einen Eimer“, erklärte sie, ,,bin schon wieder weg.“
,,Ja, wir müssen auch gehen“, erklärte Antonia, und so verließen sie die Kammer. Anna folgte Antonia und sah, dass ihre Cousine ein dickes Buch in ihrer Kitteltasche trug.
,,Was hast du da? Ist das ein Roman?“, wollte Anna neugierig wissen.
,,Ach, nichts Besonderes.“Anna stellte mit Erstaunen fest, dass Antonia rot geworden war.
Schweigend gingen sie weiter, unsicher warf Anna einen Seitenblick auf Antonia, erwartete eine Erklärung, doch diese schwieg, und ihr Gesicht blieb verschlossen.
Als sie den Aufenthaltsraum erreichten, öffnete Anna die Tür, und der Duft von Tannengrün, Gelächter und Gekicher der Mädchen kam ihnen entgegen.
Anna winkte Antonia noch rasch zu, bevor sie den Raum betrat und die Tür hinter sich zuzog. Antonia war sich sicher, dass ihre Cousine heute nicht versuchen würde, sich aus dem Lazarett wegzustehlen.
Sie ging zur Tür Nummer 205. Lautlos betrat sie das Einzelzimmer, in dem der zwanzigjährige Thomas von Lilienthal lag. Er hielt die Augen geschlossen, doch am Zucken der Lider, am kleinen Lächeln erkannte Antonia, dass er wach war. So setzte sich Antonia auf den Stuhl neben das Bett, schlug ihr Buch auf und fing leise zu lesen an.
Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen, ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.
Antonias Stimme wurde zum Flüstern, bis sie ganz abbrach. Sie hob den Blick. Thomas sah sie an. ,,Eichendorff, nicht wahr? ›Aus dem Leben eines Taugenichts‹?“
Antonia nickte ihm zu. ,,Ja, ich war mir sicher, es würde Ihnen gefallen.“Thomas lächelte. ,,Ich liebe Eichendorff“, antwortete er.
Ein kleines Lächeln glitt über das blasse Gesicht des jungen Mannes. ,,Das ist ein schöner Gedanke, Schwester Antonia.“
Nur noch ein paar Wochen bleiben ihm, schoss es ihr durch den Kopf. Oberschwester Hertha hatte es ihr gesagt, so laute die Prognose von Professor Mähler.
,,Armer Kerl“, meinte Schwester Hertha bedauernd. ,,Er hat den feindlichen Angriff überlebt, die Schusswunde ist verheilt, und jetzt stirbt er an Leukämie. Es wäre besser gewesen, die Granate hätte ihn sofort getötet.“
Vor zwei Wochen war er hier auf die Privatstation verlegt worden. Hatte Schwester Hertha recht? Von ihr erfuhr Antonia auch, dass Thomas von Lilienthal keine Angehörigen mehr habe, die man benachrichtigen konnte. Seine Eltern waren bei einem Luftangriff auf Potsdam ums Leben gekommen. Aber Antonia wollte nicht zulassen, dass er allein sterben musste. Sie würde bei ihm sein, seine Hand halten, ihm vorlesen, ihm das Gefühl geben, nicht einsam … nicht ungeliebt zu sein.
Thomas von Lilienthal sah sie noch immer an. Sie hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, so musste er ihre Narbe sehen. Ihr Herz klopfte, doch sie konnte keine Ablehnung, kein Befremden in seinen Augen erkennen.
Er lächelte sie an, fast so, als verstehe er, was in ihr vorging.
Vorsichtig griff er nach ihrer Hand. ,,Es ist schön, dass Sie bei mir sind.“
Da wurde kurz geklopft, und Schwester Helene kam mit dem Mittagessen herein. Sofort fuhr Antonia hoch, ließ Thomas’ Hand los, während der dicke Eichendorff-Band zu Boden polterte. Sie hob ihn rasch auf, murmelte ein Auf Wiedersehen und lief an ihrer Kollegin vorbei. Schwester Helene hatte gesehen, dass sie sich an der Hand hielten. Antonia hatte die strenge Vorschrift verletzt, jeden persönlichen Kontakt zu Patienten zu vermeiden. Die Lernschwestern durften sich nicht einmal auf ein privates Gespräch einlassen. Fortsetzung folgt